-Anne Wächtershäuser-
Dipomarbeit zum Thema Demenz:
Konzepte für die Betreuung dementer Menschen. 
Theoretische Modelle und ihre Umsetzung in der Praxis
am Beispiel von Altenheimen in Marburg
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6 Demenzpflege im Wandel
 
 
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Theoretische Modelle und ihre Umsetzung in der Praxis
am Beispiel von Altenheimen in Marburg
 
 

6.1 Historische Entwicklung
Psychische Erkrankungen wurden schon in der griechisch-römischen Antike beschrieben. Die Therapie folgte aufgrund des mangelnden Verständnisses der Ätiologie zumeist somatisch orientiertenKonzepten wie Diätik, Massagen, Umschläge oder Aderlässe (vgl. Möller, 1996, S. 18). Bis ins späte Mittelalter existierte keine organisierte Versorgung für psychisch Kranke, "zum größten Teil hingen sie von individuellen Akten der Mildtätigkeit ab, und ein paar religiöse Körperschaften sorgten für ein wenig Rückhalt." (Kitwood, 2000, S. 69).
Im 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts erfolgte eine Verwahrung, die nur mit "inhuman" beschrieben werden kann, von psychisch Kranken in "zuchthausartigen Tollhäusern" zusammen mit behinderten Menschen, Armen, Obdachlosen und Prostituierten, also ganz allgemein gesellschaftlichen Außenseitern. Dies waren "Bewahranstalten", in denen "konstruktive Versuche der Hilfe oder Heilung" nicht umgesetzt wurden (Kitwood, 2000, S. 70). Parallel zu dieser Entwicklung wurden alte Menschen im gleichen Zeitraum auch in Kunst und Literatur als "kindliche Jammergestalten und verachtete Randfiguren" (Blimlinger, 1996, S. 5) verspottet. Im 18. Jahrhundert wurde zwar im Zuge der Aufklärung in Kunst und Literatur die Weisheit des alten Menschen in den Vordergrund gestellt, gleichzeitig herrschten aber in der Realität Gleichgültigkeit und Ausgrenzung gegenüber älteren Menschen (vgl. Blimlinger, 1996, S. 5f.). Der Begriff "Demenz" wurde zu dieser Zeit umgangssprachlich und in der Juristensprache für alle psychischen Erkrankungen gebraucht.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann eine langsame Humanisierung in der Behandlung der psychisch Kranken. Zumindest begrifflich wurden aus Tollhäusern zu dieser Zeit "Irrenanstalten".
Der französische Arzt Philippe Pinel (1745-1826) prägte einen Umgang mit psychisch Kranken, der durch Zuwendung, Geduld und Milde gekennzeichnet war, allerdings aus heutiger Sicht ebenfalls recht inhumane Behandlungsmethoden, "um die Seele zu erschüttern und von der 'idée fixe' abzulenken" (Möller, 1996, S. 19), z.B. Hungerkuren oder Untertauchen in kaltes Wasser.
Einen wirklichen Umbruch brachte erst die "non-restraint"-Bewegung in England, die als prominenten Vertreter John Conolly (1794-1866) zu ihren Anhängern zählte. Hier wurde zum ersten Mal ein vollständiger Verzicht auf Zwangsmittel propagiert. Zum Betreuungsprogramm gehörten soziale Veranstaltungen, Beschäftigungsangebote, wie z.B. handwerkliche und landwirtschaftliche Betätigungen, und ein täglicher Kontakt von Arzt und Patient, was bis dahin durchaus nicht üblich war (vgl. Möller, 1996, S. 18f.). Der Begriff "Demenz" erfuhr zu dieser Zeit ebenfalls einen Bedeutungswandel. Er wurde jetzt in der medizinischen Fachwelt für das Nachlassen von kognitiven Fähigkeiten gebraucht (vgl. Möller, 1996, S. 169). Über die Ursachen psychischer Erkrankungen existierten zu dieser Zeit zwei (sich damals gegenseitig ausschließende) Auffassungen. Die "Psychiker" sahen die Ursachen der Erkrankungen und damit auch die Möglichkeiten der Behandlung seelisch begründet, die "Somatiker" glaubten an körperliche Ursachen und verfolgten daher überwiegend körperliche Therapieansätze. In Deutschland vertrat Wilhelm Griesinger (1810-1865) als einflussreicher Psychiater die Auffassung, dass psychische Erkrankungen auf Erkrankungen des Gehirns zurückzuführen sind. Insgesamt wurden in dieser Zeit psychische Erkrankungen zunehmend zu einem medizinisch beachteten Thema (vgl. Maurer, 2000, S. 62).
Das Schlüsseljahr für die Erkrankung "Demenz" ist das Jahr 1901, in dem Alois Alzheimer (1864-1915) zum ersten Mal eine detaillierte Beschreibung eines an präseniler Demenz erkrankten Menschen festhielt. Eine Wiederentdeckung der Krankenakte dieser Patientin (Auguste D.) erfolgte erst im Jahr 1995, in der ehemaligen "Frankfurter Anstalt für Irre und Epileptische", in der Alzheimer damals tätig war. Die Therapie lehnte sich zwar an das "non-restraint"-Behandlungsprinzip an, es erfolgten jedoch durchaus Zwangsanwendungen wie Zwangsfütterung, Zwangsbäder oder Zwangsreinigung (vgl. Maurer, 2000, S. 73). Der Behandlungsplan für Auguste D. sah Folgendes vor: Alzheimer hatte täglichen Kontakt zu seiner Patientin und bemühte sich um den Aufbau eines vertrauensvolles Verhältnisses. Dazu kam die Anwendung von ausgedehnten lauwarmen Bädern (mehrere Stunden bis Tage), um Unruhezustände zu mildern. Des weiteren sah der Behandlungsplan diätische Maßnahmen, Bewegung, Massagen, Alkohol in geringer Dosierung (angstmindernd), den Einsatz von Schlafmitteln (Chloralhydrat, Paraldehyd) und bei starker Unruhe die Unterbringung in einem Isolierzimmer vor (vgl. Maurer, 2000, S. 30-32).
Alzheimer war sehr selbstkritisch, ob es sich bei der vorliegenden "präsenilen" Demenz um ein eigenständiges Krankheitsbild, oder es sich um eine früh aufgetretene Form der senilen Demenz handelte. Die Behandlung war allerdings in beiden Fällen die gleiche.
Der Psychiater Emil Kraeplin (1856-1926) empfiehlt für die Behandlung des "Altersblödsinns" und auch der präsenilen Demenz eine "sorgsame körperliche Pflege, und Überwachung der oft gebrechlichen und hinfälligen Kranken, Regelung der gesamten Lebensweise, besonders der Verdauung, Bekämpfung der Angst durch kleine Opiumgaben, der Schlaflosigkeit durch Bäder, vorsichtige Wicklungen, gelegentliche Darreichungen von Paraldehyd und Veronal. In den delirösen Aufregungszuständen ist häufiger die Anwendung des Polsterbettes oder des Dauerbades sowie die Sondennährung mit oder ohne Zusatz eines Beruhigungsmittels notwendig." (Maurer, 2000, S. 224). Abgesehen davon war er der Auffassung, dass eine Anstaltsbehandlung oft unnötig sei und durch die Familie ersetzt werden könne.
In der Folgezeit kam es mit dem Einzug des somatisch-medizinischen Ansatzes in der Psychiatrie zu einem Wandel in der Therapie. Ziel war nun die Erforschung organischer Ursachen und ihrer medikamentösen Behandlung, wobei die Weiterentwicklung psychologischer Betreuungsformen stark vernachlässigt wurden (vgl. Kitwood, S. 71). Die Demenzerkrankung entwickelte sich in dieser Zeit zu einem medizinischen Forschungsgebiet, und der Histopathologie des Gehirns wurde verstärkt Aufmerksamkeit gewidmet (vgl. Kitwood, 2000, S. 71). Dies hatte Alzheimer zuvor ebenfalls getan, indem er die Gehirne verstorbener dementer Menschen untersuchte. Basierend auf histopathologischen Ergebnissen konnten Parallelen zwischen der Alzheimer-Erkrankung und der senilen Demenz aufgezeigt werden und die Bezeichnung "Alzheimer-Krankheit" setzt sich in der medizinischen Fachsprache durch (vgl. Maurer, 2000, S. 278-280).
Insbesondere in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts intensivierte sich die medizinische, aber auch die öffentliche Wahrnehmung des Themas "Demenz". Dies hatte mehrere Ursachen. Zum einen trat die Erkrankung, deren Auftreten bis dahin relativ selten war, infolge der gesteigerten Lebenserwartung häufiger auf (Inzidenz), was eine steigende Prävalenz zur Folge hat. Besonders durch das Bekenntnis zur Krankheit durch prominente Personen (z.B. Rita Hayworth, Ronald Reagan, Herbert Wehner) erreichte die Demenz auch in der breiten Öffentlichkeit einen hohen Bekanntheitsgrad (vgl. Maurer, 2000, S. 285-291).
Allerdings wurde der psychologischen Betreuung bis dahin kaum Beachtung geschenkt. "Demenz" galt als rein medizinisches Thema, so dass wenig finanzielle Unterstützung bereitstand und die betreuenden Personen nicht auf eine spezialisierte Demenzpflege vorbereitet wurden. Dieser Tatbestand wurde vor allem von T. Kitwood aufgegriffen und kritisiert (vgl. Kap. 5.7).
Insgesamt wurde das Konzept "Verwahren und Wegschließen" nach und nach aufgegeben. So nahm zum Beispiel die Fürsorge in den Gemeinden zu, und es setzten sich unter anderem Unterbringungskonzepte durch, die kleinere Wohneinheiten bevorzugen.
Eine großes Hindernis für eine angemessene Betreuung stellte und stellt immer noch der finanzielle Rahmen dar. Durch unzureichende Mittel kommt es zu einer Versorgung unterhalb des akzeptablen Standards, und oft wird statt adäquater Betreuung der Einsatz von Medikamenten "zur Verhaltenskontrolle und Kostenreduktion" praktiziert (vgl. Kitwood, 2000, S. 71-73).
Positive Veränderungen in der Demenzpflege entwickelten sich in den letzten Jahren vor allem durch einen Wechsel der Betreuungskonzepte, die jetzt stärker auf die Person mit Demenz und das tatsächliche Leben mit Demenz fokussiert sind als auf die Art der Unterbringung von dementen Menschen. Als sehr positive Innovationen sind vor allem die Anteile anKonzepten herauszustellen, die auf eine Verbesserung der Betreuungs- und Pflegestrategien abzielen. Dies ist zum Beispiel die Entwicklung von Beobachtungsverfahren zur Evaluation und Qualitätssteigerung des Pflegeprozesses, wie das Dementia Care Mapping-Verfahren (vgl. Kap. 5.7.3). Ebenfalls in diese Kategorie gehört die Tagespflege, die als fortschrittliches Betreuungskonzept sowohl die Entlastung der betreuenden Personen als auch die dementengerechte Betreuung fördert. InnovativeKonzepte, die die Tagespflege weiterentwickeln, existieren z.B. in England in Form der "informellen" Tagespflege (2-3 demente Menschen verbringen den Tag bei einer speziell ausgebildeten ehrenamtlichen Betreuungsperson) oder den "Befreundungsdiensten" (ein Besucher verbringt eine gewisse Zeit bei Demenzkranken zu Hause).
Auch spezielle Wohnformen für demente Menschen wurden aus dem Ansatz, kleinere Wohneinheiten zu propagieren, vor allem in der Form von betreutem Wohnen abgeleitet. Hierzu gibt es beispielsweise das Domus-Projekt in England (Zusammenleben in kleinen Wohngruppen) oder Modelle aus Schweden (Zusammenleben in Einzelwohnungen in einem Wohnblock mit Pflege- und Betreuungsangeboten).
Mehr in den Mittelpunkt rücken außerdem bessere Unterstützungsangebote (Schulungen, Gruppentherapie usw.) für pflegende Angehörige und demente Menschen, besonders im Anfangsstadium der Erkrankung (vgl. Kitwood, 2000, S. 89-91).
Während die Forschung sich lange Zeit der Pathogenese der Erkrankung gewidmet hat, wendet sich die Erforschung von Therapiemöglichkeiten verstärkt der Betreuung zu. Studien belegen hier mittlerweile recht gut den Zusammenhang zwischen Pflegepraxis und Wohlbefinden oder auch, dass eine adäquate Betreuung die kognitive Leistungsfähigkeit länger erhalten oder sogar steigern kann (vgl. Kitwood, 2000, S. 95-98).
Kitwood kommt zu dem Fazit, dass zwar insgesamt betrachtet ein positiver Trend zu beobachten ist, dieser aber nicht konsequent genug verfolgt wird. Die positiven Veränderungen in der Demenzpflege in den letzten Jahren sind revolutionär, "selbst wenn noch immer eine große Masse weit hinterherhinkt." (Kitwood, 2000, S. 129). Hier besteht seiner Meinung nach die Gefahr, dass der Prozess der positiven Veränderung einen vorläufigen Endpunkt erreicht hat, wobei er als größte Errungenschaft der bisher eingetretenen Veränderungen herausstellt, dass demente Menschen nicht mehr verborgen gehalten, sondern als Personen anerkannt werden (vgl. Kitwood, 2000, S. 191). Um eine weitere Verbesserung der Betreuung zur erreichen, ist seiner Meinung nach, im Anschluss an den Paradigmenwechsel im Verständnis von Demenz und dementen Menschen, der ausschlaggebende Schritt die Transformation der Pflegekultur (vgl. Kap. 5.7). Hemmnisse für die Veränderung in der Auffassung, was Pflege leisten soll, ergeben sich zu einem guten Teil aus der Vergangenheit. So wiegt die Last der Tradition, demente Menschen als Personen nicht ernst zu nehmen, schwer, wobei dieses Phänomen begünstigt wird durch eine weiterhin bestehende Vormachtstellung der Medizin und die gleichzeitige Beziehung zwischen Medizin und pharmazeutischer Industrie, die immer noch eher die somatische Seite der Erkrankung und die medikamentöse Therapie im Blick haben. Ein geringer Status der Altenpflege als Beruf und monetäre Einschränkungen, die sowohl die Quantität als auch die Ausbildungsqualität der Pflegekräfte einschränken, haben ebenso einen äußerst ungünstigen Einfluss auf die Wandlung der Pflegekultur (vgl. Kitwood, 2000, S. 202-204).
Veränderungen können daher nur schrittweise Einzug halten und müssen mit kostengünstigen Schritten begonnen werden. Daraus resultierende Erfolge (höheres Wohlbefinden der dementen Menschen, Zufriedenheit der Mitarbeiter) können dann den Bedarf nach einer Fortsetzung dieses Prozesses wecken. Dieser sollte unter anderem zu einer besseren Auswahl und einem bedarfsgerechten Training der Mitarbeiter und der Einbeziehung von Ehrenamtlichen in die Pflege führen. Ein Schwerpunkt muss auf der Ausbildung von Pflegekräften (psychologische Aufgaben und interaktive Fähigkeiten) und einer Statusanhebung (Fachausbildung) der Betreuer von dementen Menschen liegen. Kitwood schätzt, dass allein in England etwa 2000 Personen benötigt werden, um Pflegekräfte in der Demenzpflege auszubilden, und noch einmal die gleiche Anzahl, um Betreuende zu unterstützen (vgl. Kitwood, 2000, S. 202-204).
Nach der Veränderung in der Betrachtung der Krankheit "Demenz" sollte nun auch eine Erneuerung in der Einstellung zu Demenzkranken stattfinden. Erich Schützendorf bemerkt dazu: "Man müßte die Zuversicht haben können, in Ruhe den Verstand verlieren zu dürfen, und man müßte in dem Gefühl leben können, daß die 'normalen' Menschen einen auch als Menschen behandeln werden, wenn man in eine andere Welt ver-rückt ist." (Schützendorf, 1991, S. 9). Leider zeigen Fallbeispiele oder Videoaufzeichnungen aus dem Pflegealltag, dass dieser Weg noch kaum beschritten und eben die "alte Pflegekultur" oft nicht einmal als unzureichend empfunden wird. E. Grond betont zur Demenzpflege, "wie sehr dabei an den Bedürfnissen alter Menschen vorbei gepflegt wird, d.h. ein Umdenken immer dringender wird." (Grond, zit. n. Schützendorf, 1991, S. 7).
Trotz allem gibt es natürlich Schritte in die richtige Richtung und auch in Deutschland lassen sich positive Trends in der Dementenbetreuung feststellen. So wurden zum Beispiel im "Hamburger Modellprogramm" zur stationären Dementenbetreuung (1991 bis 1994) 17 modellhafte Projekte in unterschiedlichen Einrichtungen untersucht. Hier nahmen insgesamt 343 Demenzkranke an einem zentral organisierten Programm teil, dessen Ergebnisse dokumentiert und evaluiert wurden. Ziel war es, verbesserte Umgangs- und Versorgungsformen für Demenzkranke zu entwickeln. Dabei kamen unter anderem SET, Milieutherapie und Verhaltenstherapie zum Einsatz, und es erfolgte eine Weiterentwicklung der einzelnenKonzepte (vgl. Bruder, 2001b, S. 16 - 32). Aus den Modellkonferenzen, die dem Erfahrungsaustausch und der Gremienarbeit dienten, entstand nach Beendigung der Modellphase 1995 die Deutsche Expertengruppe Dementenbetreuung. Aus den Erfahrungen im Modell resultierten auch konkrete Handlungsanweisungen für die Betreuung Demenzkranker (vgl. Bruder, 2001b, S. 28-31).
Was die Wohnkonzepte betrifft, so hat sich in den letzten Jahren eher eine Tendenz zur segregativen Betreuung dementer Menschen entwickelt. Der Grund dafür liegt in der Erfahrung, dass die integrative Betreuung negative Auswirkung auf das Wohlbefinden sowohl der psychisch erkrankten als auch der psychisch gesunden Bewohner hat. Überwiegend sind es allerdings die dementen Menschen, die durch Ablehnung, verbale Anfeindungen oder tätliche Angriffe in einer integrativen Situation die Leidtragenden sind. Die Belastung für Gesunde entsteht vor allem durch das Verhalten von dementiell Erkrankten oder auch durch die Angst, "auch so" zu werden (vgl. Dürrmann, 2001, S. 80-83).
Ein weiteres Beispiel für die Erforschung neuester Betreuungsansätze ist das "Seniorenpflegeheim Polle", in dem die Dementenbetreuung nach dem segregativen Prinzip praktiziert wird. In diesem 1994 eröffneten Heim existiert ein spezieller Wohnbereich für schwerstdementiell erkrankte Bewohner. Hier wird ein eigenständiges Konzept erprobt, das sich auf den theoretischen Hintergrund der Integrativen Validation stützt und milieutherapeutische Aspekte sowie Bezugspflege mit einbezieht. Insgesamt lässt sich der Grundgedanke als "Normalisierungsansatz" (bewohnerorientierte Grundeinstellung, z.B. keine festen Schlafenszeiten, individuelle Angebote, erlebens- und biographieorientierte Partizipation) bezeichnen (vgl. Dürrmann, 2001, S. 80-107).

6.2 Dementenbetreuung im Landkreis Marburg-Biedenkopf
Die Ausführungen in diesem Kapitel beziehen sich hauptsächlich auf mündliche Informationen von Ruth Schlichting (Mitarbeiterin im Kreisausschuss des Landkreises Marburg-Biedenkopf, Stabsstelle Altenhilfe) und die 1999 veröffentlichte Publikation des Kreisausschusses mit dem Titel "Gerontopsychiatrische Versorgung im Landkreis Marburg-Biedenkopf. Bestandsaufnahme und Planungsempfehlungen".
Im Landkreis belief sich 1997 die Zahl der Einwohner über 65 Jahren auf 36 063 Personen. Davon waren zirka 2560 Personen mittelschwer bis schwer demenzerkrankt. Laut Schlichting hat sich diese Zahl bis zum heutigen Zeitpunkt auf etwa 3000 Personen erhöht, dazu kommt eine etwa gleiche Anzahl von Menschen mit einer leichten Demenzerkrankung.
Auf die Frage nach den Versorgungsstrukturen für Demenzerkrankte im Landkreis führt Frau Schlichting verschiedene Hauptkomponenten auf.
Dies ist zum ersten die vor zwei Jahren gegründete Alzheimer-Gesellschaft Marburg-Biedenkopf e.V., deren Hilfsangebote sich hauptsächlich an demente Menschen und ihre Angehörigen richtet. Zu der Angebotspalette zählen u.a. regelmäßig stattfindende Informationsveranstaltungen zum Thema Demenz, ein "Stammtisch" für Angehörige, Betreuer und Interessierte, Angehörigen-Gesprächsgruppen, ein "Sorgentelefon" und Betreuungsgruppen für Demenzerkrankte, wodurch eine stundenweise Entlastung pflegender Angehöriger erzielt werden soll. Hauptanliegen der Alzheimer-Gesellschaft ist es, die Interessen von Demenzerkrankten und deren Angehörigen öffentlich zu vertreten und diese Personengruppe durch gezielte Hilfsangebote zu unterstützen.
Eine weitere Komponente der Versorgung dementer Menschen im Landkreis bilden die stationären Altenpflegeeinrichtungen. Frau Schlichting gibt an, dass zum jetzigen Zeitpunkt keins der 35 Altenheime im Kreis eine spezialisierte Betreuung für Demenzerkrankte anbietet. Auch die teilstationären Betreuungsangebote im Kreis weisen Lücken auf. Im Landkreis bieten 13 Einrichtungen Tagespflegeplätze an (insgesamt 86 Plätze), davon erbringen jedoch lediglich zwei Einrichtungen ein Tagespflegeangebot im eigentlichen Sinne. Der Großteil der Tagespflegeplätze sind sogenannte "eingestreute" Plätze einzelner Altenheime, denen jedoch kein spezielles Konzept zugrunde liegt. Ähnlich gestaltet sich das Angebot der Nachtpflege. Im Landkreis bieten zehn Einrichtungen insgesamt 28 Nachtpflegeplätze an, "die jedoch eher den Charakter einer ‚statistischen Größe' haben, da Nachtpflege so gut wie nicht nachgefragt wird" (Kreisausschuss, 1999, S. 39).
Ebenfalls fehlt im Kreis Marburg-Biedenkopf das Angebot einer gerontopsychiatrische Kurzzeitpflege. Zwar bieten 28 Altenheime Kurzzeitpflege an, davon verfügen aber nur zwei über eine eigene Kurzzeitpflegeabteilung, welche jedoch nicht speziell auf gerontopsychiatrische Erkrankte ausgerichtet sind.
Das Angebotsspektrum der ambulanten Dienste bewertet Frau Schlichting sehr kritisch, weil es primär auf die Versorgung somatisch Erkrankter zugeschnitten ist. Gerontopsychiatrisch Erkrankte benötigen jedoch im Schwerpunkt ein spezielles Hilfsangebot, d.h. in erster Linie eine Alltagsbegleitung. Zum jetzigen Zeitpunkt existiert im Landkreis zwar eine ausreichende Anzahl von ambulanten Pflegediensten (47 Pflegedienstanbieter, Stand 1997), keiner davon verfügt jedoch über eine separate gerontopsychiatrische Abteilung oder ein spezielles Betreuungsangebot. In der Veröffentlichung des Kreisausschusses wird vermutet, dass diese Situation zu verfrühten Heimeinweisungen führt (vgl. Kreisausschuss, 1999, S. 37).
Ein weiteres Defizit in der Dementenversorgung sieht Frau Schlichting im mangelhaften Beratungsangebot für demente Menschen im Landkreis. Hier gibt es eine Vielzahl von einzelnen Beratungsstellen (z.B. des Gesundheitsamtes, des Caritasverbandes oder das Pflegebüro Marburg), die Angebote richten sich jedoch nicht primär an Demenzerkrankte und deren Angehörige. Wünschenswert für den Landkreis wäre, so Schlichting, eine Vernetzung von einzelnen Beratungsanbietern zu einer zentralen Anlaufstelle, die sich auf die Dementenberatung spezialisiert.
Insgesamt betrachtet weist die Dementenversorgung im Landkreis zwar noch viele Schwachstellen auf, in den letzten Jahren sind aber auch positive Veränderungen zu beobachten. Im Jahr 1999 wurde vom Kreisausschuss neben der Bestandsaufnahme auch eine Planungsempfehlung für die gerontopsychiatrische Versorgung im Landkreis Marburg-Biedenkopf erarbeitet. Zu den Empfehlungen zählte u.a. der Aufbau eines gerontopsychiatrischen Verbundes im Kreisgebiet, die Integration von Betreuungskonzepten in die Pflegeplanung, die Erprobung von innovativen Wohnformen für Demenzerkrankte, die Gründung der Alzheimer-Gesellschaft und die Behebung der oben genannten Missstände. Einige Vorhaben, wie z.B. die Gründung der Alzheimer-Gesellschaft Marburg-Biedenkopf e.V., konnten bereits in die Tat umgesetzt werden. Zu erwähnen ist an dieser Stelle auch die Teilnahme von 12 Altenpflegeeinrichtungen im Landkreis am Bundesmodellprojekt zur Verbesserung der Situation Demenzerkrankter in Pflegeheimen. Das Modellprojekt verfolgt das Ziel, mit Hilfe des DCM-Verfahrens die Qualität der Dementenbetreuung in den teilnehmenden Einrichtungen zu evaluieren und weiterzuentwickeln. Dazu werden die Heime viermal jährlich "gemappt" (vgl. Kap. 15.7.3) und durch Supervisoren begleitet. Ergänzend finden Fortbildungen zu verschiedenen Themenbereichen (u.a. medizinisches Grundwissen, Integrative Validation, Biographiearbeit, Milieugestaltung, Basale Stimulation) für die Mitarbeiter und die Heimleitungen statt, und in Form von "Vertiefungstagen" soll das Betreuungspersonal insbesondere für die praktische Anwendung des theoretischen Wissens geschult werden.
Der Zukunft der Demenzbetreuung im Landkreis sieht Frau Schlichting eher optimistisch entgegen, wofür ihrer Meinung nach das rege Interesse und die hohe Sensibilisierung zum Thema Demenz auf der Seite der Versorgungsanbieter spricht. Auf der anderen Seite können jedoch viele Ansätze zur Optimierung der Demenzpflege durch die fehlende Lobby der Demenzerkrankten und der mangelhaften Unterstützung auf politischer Ebene nur langsam umgesetzt werden.

 
   
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