4.1
Die Sicht der Betroffenen
Dem subjektiven Erleben der Krankheit Demenz wurde lange
Zeit nahezu keine Beachtung geschenkt. "Selbst in mehreren
seit 1990 erschienenen bedeutenden Lehrbüchern der
Psychiatrie und der klinischen Psychologie wird dieses Thema
überhaupt nicht erwähnt." (Kitwood, 2000,
S. 107). Aber gerade die Nachvollziehbarkeit des Erlebens
der Demenz aus Sicht der Betroffenen ist eine Voraussetzung
für eine adäquate Betreuung der Demenzkranken.
Der Neurologe und Psychiater Jan Wojnar bemerkt dazu: "Eine
gute Betreuung Demenzkranker kann nur dann verwirklicht
werden, wenn es gelingt, die innere Welt der Kranken, d.h.
ihre Wahrnehmungen, das Erleben und die Denkvorgänge
zu verstehen und in den Mittelpunkt aller Bemühungen
zu stellen." (Wojnar, 2001a, S. 36).
In der Praxis stellt es sich jedoch als äußerst
schwierig dar, in die Erlebenswelt von dementen Menschen
vorzudringen, da ihr sprachliches Ausdrucksvermögen
in der Regel eingeschränkt ist und sie nicht selbst
über ihre Erfahrungen mit der Krankheit berichten können.
Tom Kitwood schlägt sieben unterschiedliche Zugangswege
vor, um einen Einblick in die subjektive Welt der Demenz
zu gewinnen (vgl. Kitwood, 2000, S. 111-118):
1. Berichte, die von dementen Menschen verfasst wurden,
als ihre kognitive Leistungskraft noch relativ intakt war
(z.B. das Buch "Leben im Labyrinth" von Diana
Friel McGowin).
2. Strukturiertes Zuhören, was demente Menschen in
vorgegebenen Situationen (z.B. Interviews oder Gruppenarbeit)
sagen.
3. Aufmerksames Zuhören, was demente Menschen im Alltag
äußern.
4. Beobachtung von Verhalten und Handlungsweisen Demenzerkrankter.
5. Befragung von Menschen, die an einer Krankheit mit demenzähnlichen
Symptomen erkrankt waren (z.B. Meningitis, Depression).
6. Einsatz der eigenen poetischen Vorstellungskraft (z.B.
hat John Killick viele Stunden in Gesellschaft mit dementen
Menschen verbracht und seine Eindrücke in Gedichtform
wiedergegeben).
7. Das Rollenspiel, um sich in die Situation Demenzerkrankter
hineinzufühlen.
Kitwood
betont, dass trotzdem die Erlebenswelt der dementen Personen
nicht vollständig erfasst werden kann, unabhängig
von dem gewählten Zugangsweg.
Jede Person ist einzigartig und erlebt die Krankheit Demenz
auf individuell unterschiedliche Weise, was primär
auf die Persönlichkeitsmerkmale der Einzelperson zurückzuführen
ist. In einer Studie von Sean Buckland (1995) konnten bei
den untersuchten 132 dementen Personen z.B. sechs Gruppen
an Persönlichkeitstypen gefunden werden. Je nach Persönlichkeitstyp
und Biographie ist der Umgang mit und das Erleben der Demenzerkrankung
von Person zu Person sehr unterschiedlich. In Bezug auf
die Krankheitseinsicht können beispielsweise große
Unterschiede bestehen. Das eine Extrem bilden demente Menschen
mit sehr geringer Krankheitseinsicht, die dazu neigen, ihre
Krankheit zu verleugnen und andere für Defizite und
Fehler verantwortlich zu machen. "Nach und nach hüllt
ihre Demenz sie dann wie ein undurchdringlicher Nebel ein.
Bei manchen Gelegenheiten dringen beim Zusammenbruch psychischer
Abwehrmechanismen kraftvolle, rohe Emotionen nach außen."
(Kitwood, 2000, S. 110). Auf der anderen Seite steht eine
Minderheit dementer Menschen mit einem hohen Krankheitsbewusstsein.
Sie akzeptieren die Erkrankung ohne Abwehrreaktionen und
haben eine Chance, sie auf eine relativ positive Weise zu
erleben (vgl. Kitwood, 2000, S. 108-111).
Im Folgenden wird beispielhaft auf typische Verhaltensweisen
im Verlauf der Demenzerkrankung eingegangen.
Zu Beginn einer Demenz nehmen vordergründig die kognitiven
Fähigkeiten ab. Die betroffene Person nimmt diese Defizite
im Anfangsstadium der Krankheit wahr. Sie merkt, dass sie
neue Informationen schnell vergisst, dass sie oft Gegenstände
verlegt und nicht mehr finden kann, dass ihr Namen von Bekannten
nicht einfallen und sie Verabredungen mit ihnen vergisst.
All dies löst Gefühle der Angst aus. Angst davor,
die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren, aber
auch davor, dass andere die Leistungseinbußen bemerken
(vgl. Trilling, 2001, S. 25f.). Demente Menschen in diesem
Stadium neigen dazu, Fehler, die ihnen unterlaufen, zu leugnen
oder andere dafür verantwortlich zu machen. Niemand
soll denken, dass sie "verrückt" sind (vgl.
Trilling, 2001, S. 30f.). Im weiteren Verlauf einer Demenz
kommt es häufig zu Schwierigkeiten der verbalen Kommunikation.
Auf der einen Seite sinkt das verbale Ausdrucksvermögen,
und die demente Person hat Probleme, das auszudrücken,
was sie möchte. Sie fühlt sich unverstanden, was
Frustration, Verzweiflung und Aggressionen, vor allem verbale
Aggressivität und aggressive Handlungen gegen Gegenstände
auslösen kann. Auf der anderen Seite ist das Sprachverständnis
des dementen Menschen oft gestört, er kann Gesagtes
oder Absichten von anderen Personen nicht mehr korrekt interpretieren
(vgl. Wojnar, 2001a, S. 39). Die Kommunikation mit der sozialen
Umwelt stellt für demente Menschen eine wachsende Überforderung
dar und führt in der Regel dazu, dass von Seiten des
Erkrankten, aber auch von Seiten der Umwelt ein sozialer
Rückzug stattfindet. Der Demente fühlt sich verlassen,
einsam und wertlos (vgl. Trilling, 2001, S. 31). Die Realität
wird zunehmend unverständlich und unerklärbar.
Situationen und Informationen können nicht mehr in
einen größeren Kontext eingeordnet werden, und
"die Betroffenen erleben ihr Dasein als eine ziemlich
verwirrende Folge von Filmschnipseln." (Schaller, 1999,
S. 29). Demente Menschen versuchen in dieser Lage, ein Gefühl
von Sicherheit und Geborgenheit zu erlangen, indem sie z.B.
der Bezugsperson permanent folgen oder immer wieder dieselben
Fragen stellen (vgl. Trilling, 2001, S. 28). Diese insgesamt
bedrohliche und angstbesetzte Situation führt dazu,
dass sich die Betroffenen aus der Realität zurückziehen
und in eine "traumähnliche Welt der Erinnerungen"
(Wojnar, 2001a, S. 40) fliehen. Diese Welt ist ihnen vertraut,
und sie "fühlen sich wieder jung, gesund, leistungsfähig
und nützlich." (Wojnar, 2001a, S. 40). Die Vergangenheit
wird für die demente Person zur realen Welt, was soweit
gehen kann, dass die Selbstwahrnehmung gestört ist.
Zum Beispiel können das eigene Spiegelbild und nahestehende
Personen nicht mehr erkannt werden. Die Gedächtnisstörungen
werden in dieser Krankheitsphase in der Regel nicht mehr
wahrgenommen (vgl. Wojnar, 2001a, S. 39f.).
Nach Kitwood können demente Menschen einzelne Erlebensbereiche
mehrfach durchlaufen, denn eine Demenzerkrankung ist nicht
zwangsweise eine Folge steter Verschlechterung. Er unterscheidet
drei Hauptkategorien des negativen Erlebens.
Den ersten Erlebensbereich bilden Gefühle, die mit
einer spezifischen Bedeutung assoziiert werden (z.B. Angst
vor dem Verlassensein, Gefühl der Nutzlosigkeit, Wut
über die Demenz).
Den zweiten Bereich bilden "allgemeine Zustände",
zu denen er die Emotionen "Schrecken", "Elend
und Leid" und "Wut" und den Zustand der allgemeinen
Verwirrtheit ("Chaos") zählt.
Lediglich der dritte Erlebensbereich, den Kitwood als "Stadien
des Ausgebranntseins" bezeichnet, ist in der Regel
nicht reversibel. Diese Stadien umfassen den Zustand der
Verzweiflung, der Depression, des Vegetierens, der Erschöpfung
und der Apathie (vgl. Kitwood, 2000, S. 118-120).
4.2
Die Sicht der Angehörigen
Das Erleben der Demenz aus Sicht der Angehörigen, besonders
der pflegenden Angehörigen, wird in der Literatur vor
allem als Belastungserleben beschrieben. "Sie werden
als zweite oder als versteckte Opfer der Erkrankung bezeichnet."
(Egidius, 1997, Kap. II. 3.7.1.). Inwieweit die dementielle
Erkrankung auf den betreuenden Angehörigen belastend
wirkt, ist im Einzelfall verschieden. Ausschlaggebend dafür
ist die individuelle Belastungsverarbeitung, die im Wesentlichen
von der Qualität der emotionalen Beziehung zwischen
dem dementen Menschen und dem betreuenden Familienmitglied
abhängt (vgl. Breidert, 2000, S. 39).
Die Diagnose "Demenz" bei einem Familienangehörigen
wirkt auf die Angehörigen oft erdrückend und lähmend.
Besonders durch die überwiegend negative Darstellung
des Krankheitsverlaufs in Informationsmaterialien wird die
Demenz als eine Katastrophe empfunden, bei der es keine
Hoffnung gibt (vgl. Trilling, 2001. S.33f.). Gefühle
von Schmerz und Trauer stehen zu Beginn der Demenz bei den
Angehörigen im Vordergrund. Im Verlauf der Krankheit
spielen weitere Emotionen wie Angst (besonders die Angst
vor Verlusten), Scham, Schuld, Ekel und Aggressionen eine
zentrale Rolle (vgl. Breidert, 2000, S. 44). Zudem verändert
sich der demente Mensch während der Krankheit und dieser
Veränderungsprozess ist von Verlusten geprägt.
"Der Erkrankte ist nicht mehr so, wie man ihn kannte."
(Trilling, 2001, S. 35). Dies führt dazu, dass sich
das familiäre Rollengefüge ändert. Der demente
Ehepartner oder Elternteil wird zunehmend hilfloser und
abhängiger und "gerät in eine Kleinkinderebene"
(Klessmann, 1990, S. 10). In langjährigen Beziehungen
kann es zu einer Umkehrung von Machtverhältnissen kommen,
die bei den Familienangehörigen zum Ausbruch von Aggressionen
oder auch Rachegefühlen führen kann (vgl. Gutzmann,
2001b, S. 233).
Die dementielle Erkrankung hat Auswirkungen auf das gesamte
Familienleben. Besonders pflegende Angehörige entwickeln
gegenüber anderen Familienmitgliedern Schuldgefühle,
da ihnen weniger Zeit zur Verfügung steht, sich um
sie zu kümmern und diese sich vernachlässigt fühlen
(vgl. Gutzmann, 2001b, S. 234). Die psychisch am stärksten
belastete Gruppe von pflegenden Angehörigen sind Töchter
und Schwiegertöchter, da sie durch Pflege, Familie,
Haushalt und Beruf einer Mehrfachbelastung ausgesetzt sind.
Bei dieser Personengruppe bringt die Betreuung eines dementen
Familienmitgliedes häufig die Reduzierung oder den
Verzicht auf berufliches Engagement mit sich (vgl. Breidert,
2000, S. 65).
Insgesamt leiden betreuende Angehörige von dementen
Menschen häufig unter extremen psychischen und physischen
Belastungen. Dabei empfinden sie Verhaltensänderungen
des dementen Menschen, wie Antriebslosigkeit, mangelnde
Kooperationsbereitschaft und abnehmende Kommunikationsfähigkeit,
belastender als körperliche Probleme, wie z.B. Inkontinenz
(vgl. Gutzmann, 2001b, S. 235). Eine Studie von Adler et
al. belegt, dass 90-96% aller Angehörigen massive Einschränkungen
in Bezug auf ihre Lebens- und Freizeitgestaltung hinnehmen
(vgl. Breidert, 2000, S. 67). Die Pflege erfordert eine
permanente Anpassung an die sich ändernden Bedürfnisse
des Erkrankten und beansprucht sehr viel Zeit, wodurch das
soziale Leben der pflegenden Angehörigen stark eingeschränkt
wird. Sie leiden unter Einsamkeit und dem Verlust von Freunden
und Hobbies. Die Rückstellung der eigenen Bedürfnisse
und der "Zwiespalt der Gefühle zwischen Zuneigung,
Pflichtgefühl, Mitleid, und andererseits Wut, Schuld,
Ekel und Kränkung, gepaart mit Isolation und Unverständnis
der Umwelt" (Breidert, 2000, S. 55f.), kann bei den
Angehörigen zu einer emotionalen Überforderung
führen, die sich in Form von Aggression, Wut und Verzweiflung
äußern kann (vgl. Breidert, 2000, S. 55f.). "Manchmal
sind die Angehörigen so verzweifelt und fühlen
sich so alleingelassen, dass sie von den Kranken als lebendigen
Toten sprechen." (Krämer, 1995, S. 23). Die hohe
Belastung fördert zudem das Erkrankungsrisiko der pflegenden
Angehörigen. Häufig treten depressive Störungen
auf, und es gibt auch Hinweise darauf, dass sie für
Infektionskrankheiten anfälliger sind (vgl. Gutzmann,
2001b, S. 234f.).
Selten werden Hilfsangebote von außen (z.B. ambulante
Pflegedienste, Tagespflegeeinrichtungen) in Anspruch genommen,
die die pflegenden Angehörigen entlasten könnten.
Die Gründe dafür liegen hauptsächlich darin,
dass Angehörige diese Entlastungsangebote sehr kritisch
beurteilen und die Bitte um Hilfe von außen als beschämend
und Eingeständnis des Selbstversagens erlebt wird (vgl.
Breidert, 2000, S. 64). Oft wird erst dann eine Heimunterbringung
für ein demenzerkranktes Familienmitglied erwogen,
wenn die Angehörigen durch die Pflege- und Betreuungsaufgaben
überfordert sind. "Wenn die Entscheidung zur Heimeinweisung
dann zustande gekommen ist, führt das neben der Entlastungsperspektive
oft zu verstärkten Schuldgefühlen, denn auf der
symbolischen Ebene bedeutet die Beendigung der Versorgung
durch ein Kind oder den Ehepartner wohl immer auch den Verstoß
gegen uralte Gebote der Hilfsbereitschaft in den engsten
aller menschlichen Beziehungen." (Bruder, 2001a, S.
405).
4.3
Die Sicht der professionellen Pflegekräfte
Professionelle Pflegekräfte wissen, im Gegensatz zu
pflegenden Angehörigen, in der Regel wenig über
die Persönlichkeit und die Vergangenheit eines dementen
Menschen, bevor er erkrankt ist. "Im Pflegealltag trifft
man auf den alten Menschen, wie er heute ist, und es ist
schwierig, sich ihn jung, gesund und voller Tatendrang vorzustellen."
(Trilling, 2001, S. 39). Hinzu kommt die Tatsache, dass
Pflegekräfte in der Berufsausbildung oder Fortbildungen
sehr häufig ungenügend auf die Betreuung dementer
Menschen vorbereitet werden. Dies führt in der Pflegepraxis
dazu, dass Betreuende schwer einen Zugang "in die ver-rückte'
Welt der Verwirrten" finden (Grond, zit. n. Schützendorf,
1991, S. 8). Verhaltensweisen von dementen Menschen werden
leicht fehlinterpretiert und treffen auf Unverständnis.
"Können die Pflegekräfte entscheidende Signale
und Schlüsselworte nicht deuten, verkennen sie die
Bemühungen der alten Menschen zu kommunizieren, leicht
als Haschen nach Aufmerksamkeit oder gar als Aggression."
(Trilling, 2001, S. 40). Insgesamt werden demente Menschen
im Pflegealltag als belastend empfunden, und die Arbeit
mit ihnen wird als frustrierend und unbefriedigend erlebt
(vgl. Trilling, 2001, S. 40). Schützendorf beschreibt,
dass die ständige Überforderung der Pflegekräfte
in der Betreuung dementer Menschen eine "Entmenschlichung
in der Pflege dieser Menschen" (Schützendorf,
1991, S. 46) bewirkt, was wiederum Ängste bei den Pflegenden
auslöst, selbst im Alter dement zu werden.
Auch Tom Kitwood geht davon aus, dass die Konfrontation
mit Demenzerkrankten Ängste auslösen kann. Als
Mittel, diese Ängste im Pflegealltag erträglich
zu machen, entwickeln Pflegekräfte seiner Ansicht nach
Abwehrmechanismen, die sich in Form von depersonalisierenden
Tendenzen in der Dementenbetreuung zeigen. Zusätzlich
kritisiert Kitwood eine bestimmte Grundeinstellung zur Demenz,
die er als "Standardparadigma" bezeichnet. Sie
beinhaltet die Auffassung, dass die Erkrankung ein rein
medizinisches Problem darstellt und der Krankheitsverlauf
ohne eine medizinische Lösung nicht beeinflusst werden
kann. Diese Sichtweise bietet einerseits die Möglichkeit
der Rechtfertigung einer "schlechten" Demenzpflege,
andererseits kann sie aber auch Gefühle der Machtlosigkeit
und Ohnmacht und Schuldgefühle bei den Pflegepersonen
auslösen, was sich negativ auf die berufliche Selbstachtung
auswirkt (vgl. Kap. 5.7).
Demenz und demente Menschen können jedoch unter bestimmten
Voraussetzungen von professionellen Betreuungspersonen auch
auf eine positive Art erlebt werden. Die Arbeit mit Demenzerkrankten
kann dann als eine sehr konstruktive Tätigkeit erfahren
werden, die dem Betreuenden viel Freude machen kann. Auch
die Tatsache, im Alter eventuell selbst dement zu werden,
kann auf diese Weise akzeptiert werden (vgl. Kitwood, 2000,
S. 201-204). Eine genauere Ausführung dieser Thematik
findet sich in Kapitel 5.7.