In
diesem Abschnitt werden ausgewählte Betreuungskonzepte
vorgestellt, wobei vor allem umfassendeKonzepte berücksichtigt
werden, die einen komplexen Ansatz zur Betreuung von dementen
Menschen bieten. Auf andereKonzepte, die ebenfalls in der
Betreuung eingesetzt werden, aber eher spezielle therapeutische
Interventionen darstellen (z.B. Kunsttherapie, Musiktherapie,
basale Stimulation), wird nicht näher eingegangen.
5.1
Realitätsorientierungstraining
Das Realitätsorientierungstraining (ROT) ist ein verhaltenstherapeutischer
Ansatz, der 1958 von J. Folsom, später unter Mitarbeit
von L. R. Taulbee, in den USA entwickelt wurde. Zunächst
war dieses Konzept zur Rehabilitation von Kriegsopfern gedacht,
wurde dann aber auch in die Arbeit mit verwirrten Menschen
in Pflegeheimen eingeführt (Kitwood, 2000, S. 87).
Es war also nicht speziell für Demenzkranke konzipiert,
sondern allgemein für Menschen mit Gedächtnisverlust,
Verwirrtheit und Orientierungsschwierigkeiten in Institutionen,
unabhängig von der zugrundeliegenden Krankheit (vgl.
Egidius, 1997, Kap. V. 2.3.5). Nach Folsom verfolgt das
ROT das primäre Ziel, die Gedächtnisleistung zu
steigern und die zeitliche, örtliche und personelle
Orientierung zu verbessern. Außerdem soll die Identität
der Verwirrten erhalten und ihre Selbständigkeit, ihr
Wohlbefinden und ihre soziale Kompetenz gefördert werden.
Erwähnenswert ist auch die mit der Anwendung des ROT
angestrebte Steigerung der Arbeitszufriedenheit des Personals,
welche zu den Zielsetzungen des ursprünglichen Konzepts
zählt (vgl. Egidius, 1997, Kap. V. 2.3.5).
Praktische
Umsetzung
Das von Folsom entwickelte Konzept wird in seiner ursprünglichen
Form nicht mehr angewendet. Es lassen sich aber Teilaspekte
daraus in unterschiedlichen, später entwickelten Betreuungskonzepten,
z.B. in der Milieutherapie (vgl. Kap. 5.2), wiederfinden.
Herbert Mück bemerkt dazu: "Der Begriff ROT diente
bislang eher als Sammeltopf für viele unterschiedliche
umweltorientierte Behandlungsansätze." (Mück,
2001). Im Folgenden wird die praktische Anwendung des ROT
anhand des drei Komponenten umfassenden Konzepts von Folsom
vorgestellt. (Quellen: Egidius, 1997, Kap. V. 2.3.5; Schaller,
1999, S. 67-69; Wolter-Henseler, 1999).
Komponente
1: Das Einstellungstraining des Personals
Für die Anwendung des ROT ist die Vorbereitung des
Pflegepersonals entscheidend, "da sich mit einer rein
technischen Anwendung des ROT kaum der gewünschte Erfolg
erzielen lässt." (Schaller, 1999, S. 67). In Form
von Schulungen werden dem Personal Grundgedanken und Prinzipien
des Konzepts mit dem Ziel vermittelt, sie für die praktische
Umsetzung zu motivieren. Das Einstellungstraining soll dem
Personal eine positive Grundhaltung gegenüber verwirrten
Menschen nahe bringen, d.h. sie sollen davon überzeugt
werden, dass diese Personengruppe gezielt und mit Erfolg
unterstützt werden kann. Daneben wird der empathische,
respektvolle Umgang mit dementen Menschen und die Wichtigkeit,
über biographische Kenntnisse des Einzelnen zu verfügen,
betont. Als ausschlaggebend für die erfolgreiche Umsetzung
des Konzepts gilt außerdem eine gute Teamarbeit und
die Beteiligung des gesamten Personals, da davon ausgegangen
wird, dass nur dies eine einheitliche Haltung und Umgangsweise
gegenüber den verwirrten Menschen gewährleistet.
Die Zusammenarbeit zwischen den Mitarbeitern soll durch
regelmäßig stattfindende Teamsitzungen gefördert
werden, die gleichzeitig Gelegenheit geben, über Probleme
bei der Anwendung des ROT zu diskutieren.
Komponente
2: Das 24-Stunden-ROT
Das Ziel des 24-Stunden-ROT ist es, "den Alltag der
dementiell erkrankten alten Menschen rund um die Uhr'
so zu gestalten, dass ihre Orientierungsfähigkeit unterstützt
wird." (Egidius, 1997, Kap. V. 2.3.5). Die orientierungsunterstützenden
Maßnahmen betreffen hauptsächlich die Kommunikation
und die Umgebungsgestaltung. Jede Interaktion zwischen Pflegekraft
und Demenzerkrankten stellt nach diesem Konzept eine Möglichkeit
dar, Informationen zur Realität zu geben. Diese beziehen
sich z.B. auf die aktuelle Zeit, den Ort oder Personen.
Alle Handlungen werden von der Pflegekraft kommentiert und
Fragen des Betreuten wahrheitsgemäß beantwortet.
Formuliert der demente Mensch falsche Aussagen oder zeigt
desorientiertes Verhalten, wird dies von der Pflegeperson
korrigiert, sofern es sich nicht um sehr sensible Themenbereiche
handelt. In der Anwendung des 24-Stunden-ROT wird die Vermittlung
von Erfolgserlebnissen betont, indem z.B. leicht zu beantwortende
Fragen gestellt werden und orientiertes Verhalten und der
Realität entsprechende Äußerungen der Demenzerkrankten
vom Pflegepersonal positiv verstärkt werden. Insgesamt
soll durch dieses Vorgehen ein Realitätsbezug und ein
Bewusstsein für das reale Geschehen hergestellt und
die Kommunikationsfähigkeit des Dementen gefördert
werden.
Neben der verbalen Kommunikation soll auch die Umgebung
die räumliche und zeitliche Orientierung unterstützen.
Die Räumlichkeiten sollen einen wohnlichen Charakter
aufweisen und überschaubar und anregend gestaltet sein.
Empfohlen werden auch Orientierungshilfen, wie das Anbringen
großer Uhren und Kalender, Wegweiser, Namensschilder,
die farbliche Gestaltung verschiedener Funktionsbereiche
im Altenpflegeheim und die freie Verfügbarkeit anregender
Materialien, wie z.B. Fotos, Spiele, Zeitschriften und Radio.
Zur Umsetzung des 24-Stunden-ROT gehört des weiteren
die Strukturierung des Heimalltags, d.h. ein regelmäßig
wiederkehrender Tagesablauf.
Komponente
3: Gruppensitzungen
Das 24-Stunden-ROT wird durch täglich stattfindende
Gruppensitzungen für die dementen Heimbewohner unter
der Leitung von ein bis zwei Mitarbeitern der Institution
erweitert. Das Gruppenangebot soll dabei jeden Tag in den
gleichen Räumlichkeiten und zur selben Tageszeit stattfinden
und maximal 60 Minuten dauern. Auch die Zusammensetzung
der einzelnen Gruppen sollte nicht variieren. Die empfohlene
Teilnehmerzahl beträgt 3 bis 6 Personen, die in Bezug
auf den Schweregrad der Demenz möglichst homogen sein
sollen. In den Gruppensitzungen werden den Teilnehmern Informationen
zur Orientierung, z.B. zu Personen, Zeit, Ort und Alltagstätigkeiten,
vermittelt. Dies soll auf eine möglichst abwechslungsreiche
Art und Weise geschehen, z.B. in Form von Gesprächsrunden,
Gedächtnisspielen, Spaziergängen und alltagsnahen
Aktivitäten, wie gemeinsames Einkaufen und Kochen.
Ziel ist es hier, die Anteilnahme des dementen Menschen
an seiner Umwelt und an der Realität zu fördern.
Besonders durch die Vermittlung von Erfolgserlebnissen und
der Förderung sozialer Kontakte und Kommunikation,
soll der soziale Rückzug der dementen Menschen verhindert,
ihre kognitive Leistungskraft erhalten und ihr Wohlbefinden
insgesamt gesteigert werden.
In
der praktischen Arbeit mit dementen Menschen wird das ROT
in seiner ursprünglichen Form nicht mehr angewandt,
da es sich zeigte, dass der korrigierende Ansatz des Konzepts
eine Belastung für den Erkrankten darstellt und nur
wenig erfolgversprechend ist. Das Konzept hat sich dahingehend
weiterentwickelt, dass von dem korrigierendem Ansatz Abstand
genommen wurde und die Schwerpunkte heute auf den externen
Orientierungshilfen, der Wohnraumgestaltung und der Tagesstrukturierung
liegen, die sich auch in anderen Betreuungskonzepten für
demente Menschen finden. (vgl. Baier, 2001, S. 392).
5.2
Milieutherapie
"Unter Milieutherapie wird ein therapeutisches Handeln
zur Anpassung der materiellen und sozialen Umwelt an die
krankheitsbedingten Veränderungen der Wahrnehmung,
des Empfindens, des Erlebens und der Kompetenzen (der Verluste
und der Reserven) der Demenzkranken verstanden." (Wojnar
2001c, S. 155).
Die Milieutherapie stellt ein umfassendes Betreuungskonzept
dar, in dessen Zusammenhang sich der Begriff "Milieu"
sowohl auf die räumliche Umgebung als auch auf Umgangsformen
und Aktivitäten bezieht (vgl. Baier, 2001, S. 391).
Es soll eine Verbesserung des gesamten therapeutischen Milieus,
besonders in Langzeiteinrichtungen (Altenheime, Pflegeheime)
erzielt werden, wobei psychische Bedürfnisse der Demenzkranken
im Vordergrund stehen. Körperliche Pflege spielt in
diesem Konzept ein nachrangige Rolle. Die therapeutische
Wirkung resultiert nicht nur aus Einzelkomponenten der baulichen
Umgebung als Milieu, "sondern vom Zusammenwirken aller
Umweltkomponenten (Bau, psychosoziales Milieu, Organisation)."
(Heeg, 2001, S. 111).
Theoretischer
Hintergrund
In der Literatur finden sich unterschiedliche Angaben zur
Entstehung bzw. zur konzeptionellen Einordnung der Milieutherapie.
Nach Wächtler et al. ist die Milieutherapie eher eine
spezifische Form des ROT (vgl. Kap. 5.1). Andere (Lind und
Heeg) stellen eher einen Bezug zu Lawtons "Umweltanforderungs-Kompetenz-Modell"
her. Dessen Kernaussage lautet, "dass durch altersbedingte
Veränderungen die Umweltkompetenz alter Menschen abnehmen
kann" (Egidius, 1997, Kap. V. 2.3.1). Umweltkompetenz
bedeutet in diesem Zusammenhang eine gelungene Anpassung
an Umweltanforderungen, die einen "Anforderungsdruck"
auf die betroffene Person ausüben. Die Anpassung an
diesen Druck ist von individuellen Ressourcen abhängig
und wird durch Außenbedingungen, wie dingliche oder
soziale Umwelt, erschwert oder erleichtert. Im optimalen
Fall herrscht ein Gleichgewicht zwischen den Anforderungen
der Umwelt und der Umweltkompetenz, darauf zu reagieren.
Dieses Gleichgewicht stellt die Voraussetzung für eine
hohe Lebenszufriedenheit dar. Entspricht die Kompetenz nicht
dem Anforderungsdruck, so kann es zu einer Unter- oder Überforderung
kommen, die von einer niedrigen Lebenszufriedenheit begleitet
wird. Um ein solches Ungleichgewicht zu korrigieren, können
sowohl die individuellen Ressourcen gestärkt werden
als auch eine Anpassung der Umweltanforderungen (Außenbedingungen)
erfolgen (vgl. Egidius, 1997, Kap. V. 2.3.1).
Für demente Menschen, die oft eine starke Einschränkung
ihrer Umweltkompetenz erfahren, steht, da in diesem Fall
die individuellen Ressourcen nur bedingt änderbar sind,
die Anpassung der dinglichen und sozialen Umwelt im Vordergrund,
um die Lebenszufriedenheit zu verbessern. Durch kognitive
Störungen verlieren demente Menschen "die Fähigkeit
zu einer realistischen Beurteilung der Umgebung und zur
Anpassung ihres Verhaltens an die sozialen Normen und Erwartungen.
... Mit einer abnehmenden Anpassungsfähigkeit wächst
die Bedeutung einer flexiblen, prothetischen' Umgebung,
die den Kranken akzeptiert, unterstützt und nicht überfordert."
(Wojnar, 2001a, S. 40f.). Die adäquate Gestaltung der
Umgebung bekommt so eine Schutzfunktion: Sie soll Quellen
der Überforderung abbauen und Sicherheit und Geborgenheit
ausstrahlen. Die so gestaltete Umgebung hat die Aufgabe,
die Selbständigkeit zu erhalten und zu fördern
und das Selbstwertgefühl zu stärken.
"Die Milieutherapie soll den Demenzkranken ein menschenwürdiges,
der persönlichen Lebensgeschichte angepasstes und vom
pathologischen Stress befreites Leben, trotz der zunehmenden
Adaptationsstörungen an ihre Umwelt, ermöglichen."
(Wojnar, 2001c, S. 155). Zusätzlich soll hierdurch
die Belastung für die Betreuenden reduziert werden.
Praktische
Umsetzung
Es lassen sich drei Kernelemente der Milieutherapie herausstellen:
1.
Soziale Umgebung
Es wird ein einheitliches Konzept gefordert, an dessen Planung
und Umsetzung sich alle Mitarbeiter beteiligen. Eine enge
Zusammenarbeit aller Berufsgruppen ist dabei Voraussetzung
für ein günstiges therapeutisches Milieu.
Ein weiterer Baustein der sozialen Umgebung ist die sogenannte
"Beziehungskonstanz", womit feste Bezugspersonen
für die Betreuten gemeint sind. Es soll eine persönliche
Beziehung zwischen Demenzerkrankten und Mitarbeitern aufgebaut
werden. Die Basis dafür ist die Grundhaltung dem Erkrankten
gegenüber (Respekt, Akzeptanz, Partnerschaftlichkeit,
Kritikvermeidung, Bestätigung der Realität des
dementen Menschen). Der Umgang soll einfühlsam, geduldig
und sensibel sein und Biographiewissen wird für einen
positiven Umgang und das Verständnis gefordert. "Wenn
das Wissen um die ganze Person mit den wesentlichen Lebensereignissen
beim Pflegepersonal präsent ist, dann besteht eher
die Möglichkeit, vom stereotypen Fremdbild dement,
abgebaut, kommunikationsunfähig, schwerstpflegebedürftig'
abzukommen." (Lind, 2001, Kap. 1.5).
Die Kommunikation soll dem Kommunikationsstil von dementen
Menschen angepasst sein. Dies betrifft die verbale Ausdrucksweise
(deutlich, langsam, einfache Sätze) genauso wie den
Einsatz nonverbaler Kommunikationsmittel (Blickkontakt,
Berührungen, Gesten) (vgl. Egidius, 1997, Kap. V. 2.3.1).
Lind betont in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit der Kommunikation
während der Pflegehandlungen, d.h. die Einbeziehung
des dementen Menschen in die Pflegeprozedur (vgl. Lind,
2001, Kap. 1.3).Obwohl als Gestaltungsprinzipien Stetigkeit,
Beständigkeit und Kontinuität als die wichtigsten
herausgestellt werden, so ist es gleichzeitig die Flexibilität
in der ständigen Anpassung der Handlungen an die Bedürfnisse
des Einzelnen, die eine Über- oder Unterforderung vermeiden
hilft (vgl. Lind, 2001. Kap. 2 u. 3).
Eine weitere Voraussetzung für eine optimale soziale
Umgebung ist das Wohlbefinden und die Arbeitszufriedenheit
der Mitarbeiter, da sich ein schlechtes Arbeitsmilieu negativ
auf das Lebensmilieu und somit auf das Wohlbefinden der
dementen Menschen auswirkt. "In der Kongruenz beider
Teilbereiche liegt der Schlüssel für ein Optimum
an Pflegeleistungen u.a. in Gestalt der Zufriedenheit der
Bewohner und der Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter, denn
zwischen Lebens- und Arbeitsmilieu besteht ein striktes
Interdependenzverhältnis." (Lind, 2001, Kap. 1.1).
Die Arbeitszufriedenheit ist u.a. abhängig vom Grad
der Mitgestaltung und Mitbestimmung des Pflegepersonals,
dem Personalschlüssel, Fortbildungsangeboten und Supervision,
sowie einer geringen Fluktuation des Personalstammes (vgl.
Wojnar, 2001c, S. 159).
Ebenfalls in die Betreuung mit einbezogen werden sollen
die Angehörigen der Betreuten. Kontakte sollen gefördert
werden, damit für die dementen Menschen kein Bruch
in ihrem Beziehungsgefüge entsteht. In einem beiderseitigen
Lernprozess sollen Angehörige und professionelle Betreuer
zu einem besseren Verständnis des Betreuten kommen
(vgl. Lind, 2001, Kap. 1.5).
2. Tagesstrukturierung
Infolge der gestörten räumlichen, zeitlichen und
personellen Orientierung ist es für demente Menschen
schwer, ihren Tag eigenständig zu strukturieren oder
sich sinnvoll zu beschäftigen. Aus diesem Grund gehört
zu einer Optimierung des "Milieus" auch eine fest
vorgegebene Tagesstruktur, in der sich Aktivitäten
und Ruhephasen abwechseln (Intervallkonzept). Dabei sollte
jeder Tag gleich strukturiert sein, um ein Sicherheitsgefühl
zu vermitteln. Eine weitere Zielsetzung der Tagesstrukturierung
ist die Vermittlung des Gefühls der Bestätigung,
die Steigerung des Selbstwertgefühls und des Wohlbefindens
(vgl. Lind, 2001, Kap. 1.4).
Die dementengerechten Angebote im Tagesprogramm sollen vor
allem die niedrige Konzentrationsfähigkeit, besonders
bei Demenzerkrankten im fortgeschrittenem Stadium, und die
Kompetenzen des Einzelnen berücksichtigen. Die aktivierenden
Angebote können sowohl vertraute (z.B. Wäsche
bügeln) als auch unvertraute Handlungen (z.B. das Sortieren
von Gegenständen) beinhalten. Zu beachten ist hier,
dass es zu keiner Überforderung durch eine Reizüberflutung,
aber auch zu keiner Unterforderung aufgrund einer fehlenden
Stimulierung von außen kommt. Lind empfiehlt deshalb
eine Vorgehensweise, die dem Intervallkonzept folgt. "In
der Praxis hat sich das Intervallkonzept Aktivierungsphase
mit anschließender Beruhigungsphase als sehr effektiv
und milieufördernd herausgestellt." (Lind, 2001,
Kap. 1.4).
Zum strukturierten Tagesablauf gehört auch das regelmässige
Treffen von Gruppen. Hier sollen Bedürfnisse nach sozialen
Kontakten befriedigt und sozialer Isolation entgegengewirkt
werden. Wichtig ist das Gefühl, Teil einer Gruppe zu
sein, die allerdings möglichst klein sein sollte, da
sonst eher Überforderung die Folge der Gruppenarbeit
ist, die z.B. Aktivitäten wie Singen, Spielen, Bastelarbeiten
oder auch Spaziergänge beinhalten kann (vgl. Lind,
2001, Kap. 1.4).
Trotz des relativ festen Rahmens im Tagesablauf soll der
Spontaneität und den Wünschen der dementen Personen
keine zu feste Begrenzung gesetzt werden, was auch als "Milieu
à la Carte" bezeichnet wird. Außerdem
sollte den dementen Menschen die Teilnahme an Aktivitätsangeboten
freigestellt sein (vgl. Wojnar, 2001c, S. 159).
3.
Architektonisch-räumliche Umgebung
Eine dementengerechte räumliche Umgebung muss primär
die Funktionen "Schutz" und "Aktivierung"
erfüllen. Gelingt die Umsetzung, hat dies sowohl positive
Auswirkungen auf die dementen Menschen als auch auf die
betreuenden Personen, die von der Überschaubarkeit
der Räume und einer höheren Kontaktdichte zwischen
Personal und Betreuten profitieren kann (vgl. Lind, 2001,
Kap. 1.6).
Eine optimierte Raumstruktur beinhaltet daher überschaubare
Räumlichkeiten, was z.B. auch durch Glaswände
oder Glastüren erreicht werden kann. Weiterhin soll
die Raumstruktur möglichst barrierefreie Wege bieten,
um dem Bewegungsdrang dementer Menschen entgegenzukommen.
Als wichtig wird hier z.B. die Vermeidung von Flurenden
(Sackgassen) angesehen, die durch die Bewegungseinschränkung
zu Unsicherheit oder Überforderung und damit auch zu
unangemessenem Verhalten führen können. Positiv
im Sinne der Barrierefreiheit sind beispielsweise Endlosflure
und Rundwege (vgl. Heeg, 2001, S. 111). Selbstverständlich
erfolgt eine Kontrolle über die Ein- und Ausgänge
der Station, dabei sollten die Ein- und Ausgänge allerdings
zur psychosozialen Entlastung der Bewohner möglichst
versteckt sein (vgl. Lind, 2001, Kap. 1.6). Zusätzlich
sorgt eine individuelle und wohnliche Gestaltung durch kleine
Wohneinheiten, alte Möbel (auch von zu Hause) oder
persönliche Gebrauchsgegenstände für eine
vertraute, heimische (und nicht Heim-) Atmosphäre (vgl.
Lind, 2001, Kap. 2.4). Ausreichende Beleuchtung verhindert
die Entstehung von illusionären Verkennungen und optischen
Halluzinationen und durch eindeutige Helligkeit zur Tagzeit
wird die Normalisierung des Schlaf-Wach-Rhythmus gefördert
(vgl. Wojnar, 2001c, S. 157f.). Ebenso wichtig ist ein niedriger
Geräuschpegel, bzw. auch unaufdringliche Musik. Verschiedene
gleichzeitig auftretende akustische Signale sollten vermieden
werden. Insgesamt kann festgehalten werden, dass eine visuelle
und akustische Überreizung vermieden werden soll (vgl.
Wojnar, 2001c, S. 157).
Durch die Stimulierung mittels des räumlichen Milieus
soll eine Anregung zur Eigen- oder Gruppenbeschäftigung
erfolgen. Dies kann auf unterschiedlichste Weise erreicht
werden. Beispiele sind leicht zugängliche Regale mit
Wäsche oder Küchenutensilien, Haustiere, aber
auch ein interessanter Fensterausblick oder Bilder u.ä.
(vgl. Egidius, 1997, Kap. V. 2.3.4).
Der Zugang zu einem Garten oder Freigelände wird kontrovers
beurteilt. Während hier einerseits eine bedrohliche
Wirkung durch Verlassen des Schutzraums eventuell gefördert
wird, kann aber andererseits auch positives Erleben (Naturbezug,
Freiheit) gefördert werden (vgl. Egidius, 1997, Kap.
V. 2.3.4).
5.3
Validation
Das Konzept der Validation wurde von Naomi Feil zwischen
1963 und 1980 entwickelt. Sie arbeitete als Sozialarbeiterin
in den USA und gibt als Grund für die Entwicklung ihres
Konzepts ihre negativen Erfahrungen mit dem ROT an: "Ich
gab das Ziel der Orientierung auf die Realität auf,
als ich bemerkte, dass die Gruppenmitglieder sich immer
dann zurückzogen oder zunehmend feindselig wurden,
wenn ich sie mit der unerträglichen Realität der
Gegenwart zu konfrontieren versuchte." (Feil, 2000,
S. 9).
Das Betreuungskonzept besteht im besonderen aus Kommunikationstechniken,
die in der Betreuung von dementen Menschen angewendet werden
sollen. Der Schlüssel zu einer adäquaten Kommunikation
mit ihnen ist dabei die Validation (von lat. validus = kräftig;
engl.: valid = gültig), also das "Für-Gültig-Erklären"
der Erfahrung und der subjektiven Wirklichkeit eines anderen
Menschen. Die Kommunikation bezieht sich durch das aktive
Anerkenn en der Emotionen des dementen Menschen stark auf
die Gefühlsebene. Voraussetzung für den damit
verbundenen Versuch, den gesamten Bezugsrahmen einer Person
zu verstehen, ist ein hohes Maß an Empathie (vgl.
Baier, 2001, S. 393; Kitwood, 2000, S. 88). "Es handelt
sich dabei eher um Umgangsprinzipien mit dem Erkrankten
als um ein Therapieverfahren." (Bernhardt, o.J.). Die
persönliche Sichtweise des Demenzerkrankten wird dabei
in den Mittelpunkt der Therapie gestellt, wobei wichtige
Verhaltensregeln für den zu Betreuenden einzuhalten
sind. So soll z. B. die subjektive Realität des Betroffenen
nicht korrigiert oder in Frage gestellt werden (vgl. Baier,
2001, S. 393).
Zur besseren Erläuterung des Konzepts sollen im Folgenden
die wichtigsten Punkte zur Validation aus der Sicht von
Naomi Feil dargestellt werden. Die Seitenangaben beziehen
sich auf ihr Buch "Validation. Ein Weg zum Verständnis
verwirrter alter Menschen" (Feil, 2000).
Grundprinzipien
Validieren bedeutet, die Gefühle eines Menschen anzuerkennen
und für wahr zu erklären. Durch ein gutes Einfühlungsvermögen
soll versucht werden, in die innere Erlebniswelt des desorientierten
Menschen vorzudringen, "in den Schuhen des anderen
[zu] gehen" (S. 11). Dabei kommt es zum Aufbau von
Vertrauen, Sicherheit, Stärke und Selbstwertgefühl.
Verbale und nonverbale Signale der Erkrankten sollen aufgenommen
und in Worten wiedergegeben werden (vgl. S. 11).
Anwendung
der Technik "Validation"
Feil definiert die Validationstechnik und die Validationsziele
folgendermaßen (S. 11):
"Validation ist:
· eine Entwicklungstheorie für sehr alte, mangelhaft/unglücklich
orientierte und desorientierte Menschen
· eine Methode, ihr Verhalten einzuschätzen
· eine spezifische Technik, die diesen Menschen hilft,
durch individuelle Validation und Validationsgruppen ihre
Würde wiederzugewinnen"
"Validationsziele
sind:
· Wiederherstellen des Selbstwertgefühls
· Reduktion von Stress
· Rechtfertigung des gelebten Lebens
· Lösen der unausgetragenen Konflikte aus der
Vergangenheit
· Reduktion chemischer und physischer Zwangsmittel
· Verbesserung der verbalen und nonverbalen Kommunikation
· Verhindern eines Rückzugs in das Vegetieren
· Verbesserung des Gehvermögens und des körperlichen
Wohlbefindens" (S. 11).
Theoretischer
Hintergrund
Der Validation liegen verschiedene Prinzipien aus dem Bereich
der Psychologie zugrunde. Hier werden u. a. Carl Rogers
("Akzeptieren Sie Ihren Patienten, ohne ihn zu beurteilen")
und C. G. Jung ("Gefühle, die ausgedrückt
und dann von einem vertrauten Zuhörer bestätigt
und validiert wurden, werden schwächer, ignorierte
oder geleugnete Gefühle stärker") genannt
(S. 12).
Theoretischer Schwerpunkt der Validation als Betreuungskonzept
ist die von dem Psychologen Erik Erikson entwickelte Theorie
der Lebensstadien und Aufgaben:
Erikson unterteilt den menschlichen Lebenszyklus in acht
Entwicklungsstufen mit spezifischen Entwicklungsaufgaben
oder Krisen, wobei sich die Aufgaben mit dem Alter ändern.
Ob bestimmte Lebensaufgaben gelöst werden, hängt
davon ab, wie die Aufgaben in früheren Lebensabschnitten
bewältigt wurden. Im letzten Lebensabschnitt "Alter"
lautet die Lebensaufgabe: Leben resümieren.
Die erfolgreiche Bewältigung besteht in der Wahrung
der persönlichen Integrität. "Integrität
im Alter heißt, seine Stärken trotz seiner Schwächen
zu erkennen." (S. 18).
Bestehen unbewältigte Aufgaben aus früheren Lebensabschnitten,
so ist die Wahrscheinlichkeit, diese Aufgabe zu lösen,
gering, und es ist keine positive Lebensbilanz möglich.
Die Folge ist Verzweiflung und das Hervortreten lebenslang
unterdrückter Gefühle. "Mit einer Last, die
unerträglich wird, gehen wir ins hohe Alter."
(S.19). Daraus resultieren Niedergeschlagenheit und Depression,
das Leben wird nicht mehr als lebenswert empfunden (vgl.
S. 13-20).
Feil fügt diesem Stadienmodell von Erikson einen weiteren
Lebensabschnitt "hohes Alter" hinzu, da die Lebenserwartung
gestiegen ist. Dies ist das "Stadium jenseits der Integrität",
in dem die spezifische Lebensaufgabe "Vergangenheit
aufarbeiten" lautet. Personen, die im Lebensstadium
"Alter" (nach Erikson) die Lebensaufgabe "Leben
resümieren" durch "Wahrung ihrer Integrität"
erfolgreich lösten, haben im "Stadium jenseits
der Integrität" keinen Bedarf an der Aufarbeitung
ihrer Vergangenheit und damit die Voraussetzung, in Frieden
zu sterben. Ist dies bei desorientierten oder verwirrten
Personen nicht der Fall, so kehren sie in die Vergangenheit
zurück, um ungelöste Aufgaben, bzw. ungelöste
Gefühle des bisherigen Lebens, aufzuarbeiten. Dieser
Aufarbeitungsprozess kann nur mit Unterstützung von
außen, mit Validation, erfolgreich verlaufen. Ziel
ist eine validierende Begleitung des Aufarbeitungsprozesses,
denn "wenn diese verschiedenen Gefühle jedoch
bestätigt und validiert werden, zerstreuen sie sich"
(S. 21) Erfolgt diese Stimulierung von außen nicht,
"werden sie zu den lebenden Toten in unseren Pflegeheimen"
(S.21), d.h. sie ziehen sich in das Stadium des Vegetierens
zurück.
Unterformen
im "Stadium jenseits der Integrität"
Feil definiert vier Unterformen, wobei jede einem weiteren
Rückzug aus der Realität entspricht. Eine Person
kann innerhalb von Minuten das "Unterstadium"
wechseln, befindet sich jedoch überwiegend in demselben
(vgl. S. 49).
Unterstadium
der mangelhaft/unglücklichen Orientierung:
Hier sind kognitive Fähigkeiten weitestgehend intakt,
die Betroffenen sind sich ihrer gelegentlichen Verwirrung
bewusst. Sie leugnen Gefühle und Erinnerungslücken
und suchen die Schuld für Verluste bei anderen, dabei
projizieren sie Konflikte aus der Vergangenheit auf Personen
der Gegenwart. Die Angst vor weiteren Verlusten führt
zu Verhaltensweisen wie "Hamstern" und "Horten"
(z.B. Nahrungsmittel, Zeitungen, Servietten). Demente Menschen
in diesem Stadium klammern sich an die Realität und
halten an ihren gesellschaftlich vorgeschriebenen Rollen
fest. Sie sind verletzlich, lehnen Berührungen und
Blickkontakt ab und zeigen eine angespannte körperliche
Haltung (vgl. S. 52-54).
Unterstadium
der Zeitverwirrtheit:
Dieses Stadium ist geprägt durch die Zunahme an körperlichen
und sozialen Verlusten, die nicht mehr geleugnet werden.
Vielmehr versuchen die Betroffenen, sich in die Vergangenheit
zurückzuziehen und orientieren sich nicht mehr an der
Realität. Auf der Gefühlsebene bedeutet dies eine
Rückkehr zu universellen Gefühlen wie Liebe, Hass,
Trauer, Angst u.a. und den Versuch, angenehme Emotionen
aus der Vergangenheit wachzurufen.
Demente Menschen in diesem Stadium drücken ihre Gefühle
direkt aus. Sie verlieren die Fähigkeit, ihrer gesellschaftlichen
Rolle zu entsprechen, und die Fähigkeit zur verbalen
Kommunikation ist eingeschränkt. Die Betroffenen zeigen
eine entspannte Körperhaltung und reagieren positiv
auf Körper- und Blickkontakt (vgl. S. 54-57).
Unterstadium
"Sich-wiederholende-Bewegungen":
Hier erfolgt ein Rückzug in vorsprachliche Bewegungen
und Klänge. "Körperteile werden zu Symbolen.
Bewegungen ersetzen Worte." (S. 57).
Die Sprache wird unverständlich und der Gebrauch von
"frühen Sprachformen" und Bewegungen dient
als Transportmedium in die Vergangenheit. "Die Person
ist nicht mehr allein, mit den Bewegungen des Säuglings,
der sprechen lernt, hat sie ihre Mutter wieder zu sich geholt."
(S. 58) Gegenstände, Körperteile und Personen
gewinnen immer stärkeren Symbolcharakter für Vergangenes.
Die Betroffenen ziehen sich in Isolation und Eigenstimulanz,
z.B. in Form von sich wiederholenden Bewegungen oder Klangäußerungen,
zurück. Sie sind inkontinent und kommunizieren nur
bei Blickkontakt und Körpernähe (vgl. S. 57-60).
Unterstadium
des Vegetierens:
In diesem Stadium "verschließt sich der Mensch
völlig vor der Außenwelt und gibt das Streben,
sein Leben zu verarbeiten, auf." (S. 60). Es besteht
ein minimaler Eigenantrieb, der gerade zum Überleben
ausreicht. Die Betroffenen zeigen kaum Gefühle, kaum
wahrnehmbare Bewegungen und halten die Augen meist geschlossen
(vgl. S. 60f.).
Zielgruppe
für Validation
Die Zielgruppe sind desorientierte, sehr alte Menschen (über
80 Jahre), die sich in einem der vier Unterstadien des Lebensabschnitts
"Jenseits der Integrität" befinden, welches
Feil auch als Stadium "Aufarbeiten oder Vegetieren"
bezeichnet (vgl. S. 29-31).
Feil wendet sich gegen eine einheitliche Bezeichnung "Demenz"
oder "Alzheimer-Demenz". Ihrer Meinung nach ist
die senile Demenz im Gegensatz zur präsenilen Demenz
keine eindeutige Erkrankung, da Neurofibrillen und Plaques
im Alter normal seien. Zudem sei das gezeigte Verhalten
beider Gruppen auch im Hinblick auf die Reaktion auf Validation
unterschiedlich. "Senile Demente ... sind jene, die
ich als desorientierte, sehr alte Menschen bezeichne."
(S. 34). Dies ist die Gruppe, die der Validation zugänglich
ist (vgl. S. 31-35).
Praktische
Umsetzung von Validation
a) Validationsanwender
Die Einstellung gegenüber dementen Menschen ist für
die Anwendung von Validation wichtiger als die konkreten
Techniken. Es muss akzeptiert werden, dass der Rückzug
in die Vergangenheit eine Methode des Überlebens bedeuten
kann. "Validations-Anwender, kurz VA genannt, urteilen
nicht, sie akzeptieren und achten die Weisheit der alten
Menschen." (S. 35).
Aufgabe des VA ist die Hilfestellung bei der Erfüllung
der letzten Lebensaufgabe. Er soll vertrauensvoll zuhören,
Gefühle bestätigen und ernstnehmen, diese aber
nicht analysieren. Er soll Gefühle teilen können,
und es soll ihm möglich sein "in das Leben des
anderen [zu] schlüpfen, weil wir selbst schon viele
Verluste erlitten haben." (S. 37). "Ein idealer
VA ist jemand, der nach Erikson Erwachsenen-Intimität
erlangt hat, Identität besitzt, sich von der elterlichen
Autorität abgenabelt hat und sich ohne die Furcht,
abgelehnt zu werden, ausdrücken kann." ( S. 37).
Feil betont, dass nicht jeder für die Anwendung von
Validationstechniken geeignet ist. "Ein VA ist ein
Übermensch für 3 Minuten', denn er bringt
für sehr alte, desorientierte Menschen Empathie auf
und achtet ihre Gefühle als echte, ohne zu wissen,
warum der alte Mensch sich so verhält." (S. 38).
b)
Individuelle Validation
Diese erfolgt in den drei Schritten "Sammeln von Informationen",
"Bestimmung des Stadiums" und "Anwendung
von Validationstechniken".
Im ersten Schritt werden über mindestens zwei Wochen
Informationen über die betreffende Person, ihr vergangenes
Leben, die gegenwärtige Situation und ihre Zukunftsvorstellungen
gesammelt. Dies kann durch das Gespräch mit Desorientierten,
das Befragen von Angehörigen und das Beobachten der
betroffenen Person geschehen. Im Gespräch soll darauf
geachtet werden, dass Fragen keine Angst erzeugen. Dies
wären z.B. Fragen nach Zeitspannen. Statt dessen sollen
allgemeine Formulierungen verwendet werden. Feil unterscheidet
"Hier und Jetzt"-Fragen, die sich auf die aktuelle
Situation beziehen, (z.B. "Fühlen sie sich manchmal
alleine?") von "Damals und Dort"-Fragen.
Dies sind Fragen zur Vergangenheit, die sich auf Bewältigungsmechanismen
bei schwierigen Situationen (z.B. "Wie überstanden
Sie schwierige Zeiten?") und auf unbewältigte
Lebensaufgaben (z.B. "Haben Sie eine gute Ehe geführt?")
beziehen (vgl. S. 62-65).
Durch Beobachten sollen physische Charakteristika (die Art
sich zu bewegen, Lachfalten, Sorgenfalten usw.) und nonverbaler
Ausdruck (wie z.B. die Körperhaltung und Augenausrichtung)
erkannt werden. Ein Ziel ist dabei das Herausfinden des
bevorzugten Sinnesorgans (vgl. S. 65-67).
Im zweiten Schritt erfolgt die Bestimmung des Stadiums durch
die Informationen, die zur Person gesammelt wurden. Da sich
die Auswahl der Validationstechnik nach den einzelnen Unterstadien
richtet, ist die richtige Zuordnung der desorientierten
Person in das entsprechende Unterstadium von ausschlaggebender
Bedeutung (vgl. S. 67).
Darauf aufbauend erfolgt im dritten Schritt die Anwendung
von Validationstechniken, die auf das Unterstadium abgestimmt
sind.
Prinzipiell kann die individuelle Validation von unterschiedlichen
VA praktiziert werden und an allen Orten mit Privatsphäre
stattfinden, die ein vertrauliches Gespräch ermöglichen.
"Die Putzfrau in einem Heim kann validieren, während
sie das Zimmer aufräumt; die Pflegehelferin, wenn sie
den alten Patienten zur Toilette bringt; die Schwester beim
Austeilen der Medikamente; der Haustechniker, wenn er die
Glühbirne auswechselt; der Gärtner beim Grasmähen;
Angehörige bei einem Besuch." (S. 68). Die Dauer
der Validierung ist abhängig von der Konzentrationsfähigkeit
der desorientierten Person. Feil empfiehlt Kontaktzeiten
bis maximal fünfzehn Minuten, je nach Stadium der Desorientierung.
Die Interaktion sollte jedoch spätestens dann beendet
werden, wenn sichtbare Zeichen verminderter Angst zu beobachten
sind, z.B. regelmäßiger Atem, Lächeln, Abnahme
sich wiederholenden Verhaltens (vgl. S. 67-69).
Im Folgenden werden Techniken vorgestellt, die Möglichkeiten
zur Anwendung von Validation aufzeigen. "Es gibt keine
Universalformel, da jeder Mensch anders ist. Alle VA müssen
ihre eigene Methode finden, auf sehr alte, desorientierte
Menschen einzugehen." (S. 69).
Feil
legt dem VA nahe, vor der Validation eine Atemübung
zur Konzentrationssteigerung durchzuführen, die sie
als "Zentrieren" bezeichnet. Sie soll helfen,
sich ganz auf eine andere Person einzulassen und die eigenen
Gefühle auszublenden (vgl. S. 45, 116).
Außerdem betont sie, dass die körperlichen Charakteristika
und Gefühlsäußerungen der verwirrten Person
während der Validationsanwendung beobachtet werden
sollen. Diese kann der VA mit unerfüllten Grundbedürfnissen
(Liebe, Geborgenheit, nützlich sein, tiefe Gefühle
ausdrücken) assoziieren (vgl. S. 116).
Einen großen Komplex der individuellen Validationsmethode
bilden die verbalen Kommunikationstechniken. Feil gibt dazu
folgende Empfehlungen (S. 116):
"Achten Sie auf die Wortwahl."
"Fragen Sie: wer, was, wo, wann, wie. (Vermeiden Sie
warum)"
"Wiederholen Sie Schlüsselworte, umschreiben Sie
sie, fassen Sie sie zusammen."
"Fragen Sie nach dem Extrem (Wie schlimm? Schlimmer?
Am besten? ...)"
"Verwenden Sie mehrdeutige Pronomen (er, sie, es, jemand,
der etc.), wenn sie [sic !] das Wortgestammel nicht begreifen."
"Rufen Sie in Erinnerung (Wie war es früher?)"
"Versuchen Sie das Gegenteil vorstellbar zu machen.
(Wann war es besser? Gab es eine Zeit, wo das und das nicht
passierte?)"
"Können wir gemeinsam eine kreative Lösung
finden? Was taten Sie als das früher passierte? Finden
Sie eine Methode heraus, die damals funktionierte."
"Sprechen Sie die Emotion laut und gefühlvoll
aus. Spiegeln Sie das Gefühl."
"Singen Sie vertraute Lieder, die gefühlsmäßig
passen."
Zusätzlich
wird vorgeschlagen, Worte zu verwenden, die das bevorzugte
Sinnesorgan der verwirrten Person ansprechen (z.B. visuelle
Wörter, wie schauen, Bild, wahrnehmen, klar).
In der Validation von desorientierten Menschen im Stadium
"mangelhafte/unglückliche Orientierung" kommen
vor allem verbale Kommunikationstechniken zur Anwendung.
In den Stadien "Zeitverwirrtheit" und "Sich-wiederholende-Bewegungen"
werden, je nach verbaler Kommunikationsfähigkeit der
betroffenen Person, immer mehr nonverbale Kommunikationstechniken
eingesetzt. Im Stadium "Vegetieren" findet die
Kommunikation fast ausschließlich auf der nonverbalen
Ebene statt (vgl. S. 69-80).
In Bezug auf die nonverbalen Kommunikationstechniken macht
Feil folgende Vorschläge (S. 116):
"Spiegeln Sie die Bewegung. Atmen Sie im gleichen Rhythmus."
"Berühren Sie: die Wangen, den Hinterkopf, die
Kieferlinie, Schultern, Oberarme etc."
"Halten Sie echten Blickkontakt."
c)
Validation in Gruppen
Eine Validation in Gruppen ist für Personen im Stadium
"Zeitverwirrtheit" und "Sich-wiederholende-Bewegungen"
geeignet. Diese "haben wenig Energie und Konzentrationsvermögen
für Gespräche unter vier Augen." (S. 86)
Für Personen im Stadium "Mangelhafte/unglückliche
Orientiertheit" ist eine Validationsgruppe weniger
geeignet. "Der/die VA müßte eine solche
verwirrte Person, die oft weint, klagt oder andere Gruppenmitglieder
für ihre Fehler verantwortlich macht, in die Schranken
weisen." (S. 86) Aufgrund der extrem reduzierten Kommunikationsfähigkeit
kommen auch Betroffene im Stadium "Vegetieren"
nicht für eine Gruppenvalidation in Frage.
Die Validation soll mindestens einmal wöchentlich zur
gleichen Zeit und am gleichen Ort durchgeführt werden.
Sie dauert ca. zwanzig bis sechzig Minuten. Voraussetzung
sind eine Atmosphäre der Geborgenheit und ein Ort mit
Privatsphäre, d.h. ein psychologisch sicherer Ort,
an dem Menschen einander nicht verletzen können.
Ziel der Gruppenvalidation ist die Aktivierung von Fähigkeiten,
die die Kommunikation und die soziale Integration verbessern.
Die Betroffenen teilen in der Gruppe gleiche Probleme und
können sich eventuell gegenseitig bei Konfliktlösungen
unterstützen, sie validieren sich sozusagen gegenseitig.
Die Einrichtung einer Validationsgruppe umfasst sieben Schritte
(vgl. S. 85-98):
1) Kennen lernen
Hier werden Informationen über die desorientierten
Personen gesammelt (wie bei Individueller Validation).
2) Auswahl der Mitglieder
Eine Gruppe hat fünf bis zehn Mitglieder, von denen
höchstens zwei im Stadium "Sich-wiederholende-Bewegungen"
sind. Idealerweise sollten unterschiedliche soziale Rollen
vertreten sein.
3) Wahl der sozialen Rolle
Jedem Gruppenmitglied wird eine soziale Rolle zugeteilt,
die der Persönlichkeit der Person entgegenkommt. Dies
gibt dem Treffen Struktur und bewirkt, dass alle Teilnehmer
mit einbezogen werden. Dabei werden alte Verhaltensmuster
stimuliert und das Selbstwertgefühl gesteigert. Mögliche
Rollen sind beispielsweise der Vorsänger, der Gastgeber
oder der Vorleser.
4) Einbeziehung des gesamten Personals
Während individuelle Validation von Einzelpersonen
durchgeführt werden kann, wird bei der Gruppenvalidation
die Unterstützung der Verwaltung und der Kollegen gebraucht
(fester Raum, ungestörte Zeit, Informationen vom Personal
über Einzelpersonen und aktuelle Ereignisse, z.B. Streit).
5) Angebote
Der Ablauf eines Gruppentreffens ist jedes Mal gleich strukturiert.
Der ritualisierte Ablauf vermittelt das Gefühl der
Geborgenheit. Hauptkomponenten des Angebots sind:
Musik: Das Gruppentreffen sollte mit einem Lied eröffnet
und geschlossen werden (stimuliert Interaktion, Wohlbehagen).
Gespräch: Bei jedem Treffen wird ein bestimmtes Diskussionsthema
gewählt. Bevorzugt werden Themen, die sich auf Gefühle
beziehen wie z.B. Liebe, Ärger oder "auf den Kampf
um die eigene Meinung und um die eigene Identität."
(S. 91)
Bewegung: Hier kommt beispielsweise tanzen oder Gymnastik
in Frage. Gefördert werden das Gemeinschaftsgefühl,
Energie und Spaß. Möglich ist aber auch "Arbeiten
mit den Händen" (Gefühle ausdrücken,
z.B. Teig kneten).
Essen: Steht für Fürsorge und soll soziales und
selbständiges Verhalten auslösen.
6) Vorbereitung des Treffens
Vor dem Treffen sollte der Leiter des Treffens die Inhalte
und die Struktur wie Sitzordnung oder Ablauf festlegen.
Zusätzlich gehört dazu das "Zentrieren",
also das innere Sammeln und fokussieren des VA auf seine
Aufgabe.
7) Das Treffen
Ein Treffen soll sich immer aus einer Eröffnung (Einstimmung
der Teilnehmer), einem Hauptteil (Gespräch), dem Ende
(Wir-Gefühl herstellen, positiver Ausklang) und der
Vorbereitung auf das nächste Treffen (z.B. durch Dokumentation
von Entwicklungen und Fortschritten der Teilnehmer) zusammensetzen.
5.4
Integrative Validation
Nicole Richard (Diplom-Pädagogin, Diplom-Psychogerontologin)
aus Kassel propagiert seit 1994 in Deutschland eine Abwandlung
der Validationsmethode nach Feil. Die von ihr als "Integrative
Validation" (IVA) benannte Methode verfolgt einen sogenannten
"ressourcenorientierten Ansatz". Die Validation
konzentriert sich hierbei vor allem auf verbliebene Fähigkeiten
und Kompetenzen des Demenzerkrankten. Diese "Ressourcen"
sollen aktiviert und in die Pflege und Betreuung von dementen
Menschen integriert werden. "Ressourcen sind Bodenschätze,
Goldadern, nach denen man suchen muß." (Richard,
2001a, S. 57). Richard stellt dabei die zwei zentralen Ressourcen
"Antrieb" und "Gefühle" heraus.
"Antrieb" bezeichnet früherlernte Normgefühle
einer Generation, die eine lebensgeschichtliche Herleitung
beinhalten. Sie sind Motiv und Triebfeder des Handelns und
erfahren eine persönliche Ausprägung und Gestaltung,
z.B. Ordnungssinn oder Fürsorglichkeit (vgl. Richard,
2001a, S. 57).
"Gefühle" sind Ausdruck der momentanen Befindlichkeit
und beinhalten eine Reaktion auf die Umwelt. Sie stehen
oft in Verknüpfung mit der inneren Erlebenswelt und
werden von Demenzerkrankten direkt zum Ausdruck gebracht,
wie z. B. Angst oder Ärger (vgl. Richard, 2001a, S.
57).
Richard kritisiert an anderen Betreuungskonzepten, wie z.B.
dem ROT, dass sie sich auf den Versuch konzentrieren, nicht
mehr vorhandene oder stark eingeschränkte Fähigkeiten
von dementen Menschen zu fördern. Diese von ihr als
"defizitärer Ansatz" bezeichnete Konzeption
führt ihrer Meinung nach zu Ohnmachtsgefühlen
und Hilflosigkeit der betreuenden Personen und stellt ein
"hoffnungs-, sinn- und würdeloses Unterfangen"
dar (Richard, o.J., S. 3f.). Primär sollte ihrer Ansicht
nach das Sicherheitsbedürfnis des dementen Menschen
in den Mittelpunkt aller Bemühungen gestellt werden.
Dies erfolgt über die Aktivierung von vorhandenen Ressourcen,
wodurch das Wohlbefinden des dementen Menschen und die Motivation
der Betreuungsperson gefördert werden.
Um diese Ressourcen aufzudecken, ist es nötig, sich
in die "Zeit- und Erlebnisebene" des Dementen
einzufühlen und seine "innere Realität",
"seine persönliche Lichtung im Nebel" anzuerkennen
(Richard, 1996, S. 219). Antriebe und Gefühle können
so wahrgenommen und wertschätzend wiedergegeben werden.
"Wir sind das Echo, wir können oftmals isolierten
Äußerungsformen Demenzerkrankter eine Sprache
geben." (Richard, 2001a, S. 58). Auf diese Weise können
negative Gefühle aufgelöst und positive lebendiger
erlebt werden. Der Betreute wird emotional aufgefangen und
fühlt sich verstanden, da die von ihm geäußerten
Gefühle in einer Atmosphäre des Vertrauens ernstgenommen
und wertgeschätzt werden. Um Gefühlsmomente, die
hinter Äußerungen oder Verhaltensweisen einer
dementen Person stehen, richtig einordnen zu können,
sind Biographiewissen und Kenntnisse von Symbolen entscheidend
und die Voraussetzung für eine dementengerechte Kommunikationsweise
(vgl. Richard, 2001a, S. 57f.).
Die Kommunikation erfolgt grundsätzlich auf drei Ebenen:
Verbal (Sprache), nonverbal (Körpersprache) und paraverbal
(Betonung). Richard bemerkt, dass die Kommunikation keine
Diskrepanz zwischen diesen drei Ebenen aufweisen darf, da
dies zur Verwirrung des dementen Menschen führen kann.
Der Schwerpunkt der IVA liegt primär auf der sprachlichen
Ebene und ist deshalb vorrangig für Demenzerkrankte
im Anfangsstadium sinnvoll. Die Sprache sollte aus kurzen,
eindeutig formulierten Sätzen bestehen. Wichtig ist
außerdem die Verwendung von Zeitgeistwörtern,
d.h. die Wortwahl soll an das Alter der dementen Person
angepasst sein. Es sollen Wörter verwendet werden,
die der demente Mensch in Kindheit, Jugend und jüngeren
Erwachsenenjahren gebraucht hat (z.B. Kummer, Kavalier,
versprochen-sein). Günstig ist auch die Verwendung
von Metaphern (z.B. mir fällt ein Stein vom Herzen,
um den Finger wickeln) oder von Sprichwörtern. Ebenfalls
hilfreich ist der Einsatz von Ritualen. Dabei können
sowohl alte Rituale erkannt und gepflegt als auch neue geschaffen
werden (z.B. Gespräch immer mit den gleichen Startsätzen
beginnen). Biographieabhängige Themen und Beschäftigungen
erleichtern ebenfalls den Zugang zur "inneren Realität"
des dementen Menschen und verbessern so die Kommunikation
(vgl. Richard, 2001a, S. 58; Richard, o.J.).
Wichtige Effekte, die aus der IVA für die dementen
Menschen entstehen, sind Gefühle der Sicherheit und
der Zugehörigkeit, ein gesteigertes Selbstwertgefühl
und die Verminderung von Angst und Stress. Dies geht mit
einer Reduktion von unkontrollierten Gefühlsausbrüchen
einher und fördert so die soziale Kontaktaufnahme (vgl.
Richard, 2001a, S. 59).
Für die Betreuungskräfte ermöglicht der Einsatz
der IVA ein strukturierteres Handeln, insbesondere in Bezug
auf die Teamarbeit. Eine leichtere Einschätzung von
dementen Menschen macht den Umgang miteinander einfacher,
da weniger Berührungsängste existieren. Das sehr
personenbezogene Arbeiten führt zu einer hohen Zufriedenheit
mit der eigenen Arbeitsleistung und dem Gefühl, eine
sinnvolle Arbeit zu leisten (vgl. Richard, 1996, S. 222).
5.5
Biographiearbeit
Das Biographiewissen ist ein essentieller Bestandteil in
allen vorgestellten Betreuungskonzepten für demente
Menschen. Biographiewissen wird durch Biographiearbeit (synonym:
Erinnerungsarbeit, Erinnerungspflege, Reminiszieren) erarbeitet
bzw. erhalten und kann in die Pflege und Betreuung dementer
Menschen integriert werden. Sowohl die Betreuten als auch
die Betreuer können vom Einsatz der Biographiearbeit
profitieren.
Für demente Menschen stellt die Erinnerung an ihre
Vergangenheit eine wichtige Ressource dar, weil das Kurzzeitgedächtnis
eingeschränkt ist, das Langzeitgedächtnis, in
dem sehr gut memorierte und meist lange zurück liegende
Informationen gespeichert sind, jedoch häufig noch
lange während des Krankheitsfortschritts relativ intakt
bleibt (vgl. Kitwood, 2000, S. 88). Typisch für die
Demenzerkrankung ist zudem eine eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit
und das Leben "in einer traumähnlichen Welt der
Erinnerungen" (Wojnar, 2001a, S. 40). Dies bedingt,
dass demente Menschen mit Hilfe von Erlebnissen der Vergangenheit
in der Jetztzeit kommunizieren. "Es scheint, als böten
Erinnerungen den Menschen oft metaphorische Ressourcen,
über ihre aktuelle Lage in einer für sie handhabbaren
Weise zu sprechen." (Kitwood, 2000, S. 88). Verfügen
Betreuungspersonen über kein Biographiewissen, können
sie Verhaltensweisen und Äußerungen, die mit
der Lebensgeschichte einer dementen Person in Zusammenhang
stehen, nicht richtig deuten, und die Kommunikationsversuche
des Demenzerkrankten werden fehlinterpretiert. Die Folge
davon ist, dass der Betreute sich unverstanden fühlt
und seine Bedürfnisse oft unbefriedigt bleiben. Er
stellt seine Kommunikationsversuche schließlich ein,
und die Erinnerung an sein vergangenes Leben, aus der er
sein Selbstwissen und seine Identität bezieht, verblasst
zunehmend (vgl. Trilling, 2001, S. 40). Biographiearbeit
zielt darauf ab, das Identitätsgefühl des dementen
Menschen zu erhalten. Durch geteilte Erinnerungen kann ein
Gemeinschaftsgefühl und eine Atmosphäre des Vertrauens
entstehen. Außerdem werden die Kommunikation und die
soziale Kontaktaufnahme gefördert und die Rückbesinnung
auf Erfolge und Leistungen im vergangenen Leben kann die
Selbstachtung stärken (vgl. Trilling, 2001, S. 42f.).
In der stationären Betreuung spielt die Biographiearbeit
eine besonders wichtige Rolle, da durch den Einzug in eine
Institution die Zahl wichtiger Repräsentanzen des vergangenen
Lebens, die zum Erhalt der Identität beitragen, stark
reduziert wird. Es besteht die Gefahr, dass der demente
Heimbewohner mit seinen Erinnerungen alleine bleibt und
sein Identitätsgefühl abnimmt (vgl. Blimlinger,
1996, S. 3).
Biographiearbeit hat zudem eine positive Auswirkung auf
die Betreuungspersonen. Mit Hilfe von Biographiewissen finden
betreuende Personen leichter Zugang zu einer dementen Person,
deren verbales Ausdrucksvermögen eingeschränkt
ist. Da auf diese Weise ein Kennen- und Schätzenlernen
erleichtert wird, kann sich schneller eine persönliche
Beziehung zwischen Betreuer und Betreuten entwickeln. Auch
die Kommunikation mit dementen Menschen, die im Pflegealltag
oft nur aus Standardfragen und Standardantworten besteht,
profitiert von der Biographiearbeit. Gesprächsthemen
können sich auf die individuelle Vergangenheit einer
Person beziehen und den betreuenden Personen fällt
es leichter, Verhaltensweisen und Äußerungen
dieser Person zu interpretieren, auf Bedürfnisse einzugehen
und Beschäftigungsangebote zu machen, die den Interessen
des Demenzerkrankten entsprechen. Insgesamt betrachtet,
reduziert Biographiewissen in der Betreuung dementer Menschen
die Frustration der Betreuungspersonen und steigert ihre
Arbeitszufriedenheit (vgl. Trilling, 2001, S. 40-42; Gereben,
1998, S. 17-26).
Formen
der Biographiearbeit
Gereben unterscheidet zwei Formen der Biographiearbeit:
die gesprächsorientierte Biographiearbeit und die aktivitätsorientierte
Biographiearbeit (vgl. Gereben, 1998, Kap. 4).
Zur gesprächsorientierten Biographiearbeit zählen
Einzel- und Gruppengespräche, die zu vorgegebenen Themen
angeboten werden. Solche Themen sind z.B.: Familienleben,
Schulzeit, Kinderspiele, Feste und Feiertage.
Die aktivitätsorientierte Biographiearbeit zeichnet
sich durch die Integration der Biographiearbeit in eine
Tätigkeit aus. Dies kann beispielsweise ein Museumsbesuch,
aber auch das Anfertigen einer Collage, das Singen von Liedern
oder das Ausführen von Alltagshandlungen (z.B. Tisch
decken) sein.
Bei beiden Formen gilt, dass sich das Miteinbeziehen von
Angehörigen und eine dementengerechte Kommunikation
sehr positiv auf die Erfolgsmöglichkeiten der Biographiearbeit
auswirken. Trilling schlägt für die dementengerechte
Kommunikation vor, nur einen Sachverhalt im Gespräch
gleichzeitig anzusprechen, eine einfache Sprache zu verwenden
und vertraute Redewendungen oder Sprichwörter zu benutzen.
Weiterhin gehört das aktive Zuhören dazu, bei
dem Aufmerksamkeit auch durch nonverbale Mittel ausgedrückt
wird, im verbalen Bereich Paraphrasen verwendet und Gesprächspausen
zugelassen werden. Beachtet werden muss auch, dass insbesondere
Fragen an demente Menschen nicht auf eine absolute Antwort
abzielen sollten (z.B. Fragen, die mit "wann",
"wer", "wo" beginnen), da die Unmöglichkeit,
sie zu beantworten, für demente Menschen sehr belastend
sein kann. Eine Frage sollte immer auch den Ausweg einer
nicht allzu konkreten Antwort anbieten. In der Biographiearbeit
mit dementen Menschen ist es außerdem hilfreich, die
Sinne (z.B. Geruchs-, Geschmacks-, Tastsinn) durch Trigger
(Erinnerungsschlüssel) anzusprechen. Als Trigger können
beispielsweise Gegenstände, Photos, Speisen und Getränke
oder Musik eingesetzt werden (vgl. Trilling, 2001, S. 50-61).
In Bezug auf die stationäre Biographiearbeit gibt es
einige zusätzliche Komponenten, die berücksichtigt
werden sollten. Bei der stationären Aufnahme sollte
ein "Biographiebogen" erstellt werden, der zentrale
persönliche Daten und wichtige Informationen aus dem
Leben des dementen Menschen enthält. Dazu wird möglichst
auf die Hilfe der Angehörigen zurückgegriffen.
Trilling empfiehlt, Lebenserinnerungen in Form eines Lebensbildes,
Lebensbuches oder einer Lebenskiste, also plastisch bzw.
mit Hilfe von "Reliquien", die sie als "Erinnerungsobjekte"
bezeichnet, darzustellen. Diese sollen sich nach Möglichkeit
gut sichtbar im Zimmer des Heimbewohners befinden, so dass
in der Alltagskommunikation darauf Bezug genommen werden
kann und so die Verständigung erleichtert wird. Zusätzlich
soll die Einrichtung der Zimmer möglichst aus vertrautem
Mobiliar bestehen, und es sollen besondere "Erinnerungsecken"
o.ä. eingerichtet werden (vgl. Trilling, 2001, S. 118-121).
Ein
Betreuungskonzept, welches sich sehr stark auf Biographiewissen
stützt, ist die Selbst-Erhaltungs-Therapie, die vor
allem die Ziele der Biographiearbeit weiter ausformuliert
(vgl. Kap. 5.6).
5.6
Selbst-Erhaltungs-Therapie
Die Selbst-Erhaltungs-Therapie (SET) wurde Anfang der 90er
Jahre des 20. Jahrhunderts insbesondere von Barbara Romero,
entwickelt. Das übergeordnete Ziel dieses Betreuungskonzepts
ist die Erhaltung des personalen Selbst. Das "Selbst"
ist in diesem Zusammenhang als zentrales kognitives Schema
zu sehen, welches Informationen über die eigene Person
und die Umgebung aufnimmt, verarbeitet und aufrechterhält.
Es schafft die Voraussetzungen, um "Entwicklungen von
Situationen vorauszusagen, Entscheidungen zu fällen,
Einstellungen und Haltungen einzunehmen und sich zu orientieren"
(Romero, 1997, Kap. 1). Es ist abhängig von Selbstwert,
Selbstsicherheit und Selbständigkeit der eigenen Person.
Ein stabiles "Selbst" hat positiven Einfluss auf
das Selbstwertgefühl und die Identität und bedingt
so auch die Stimmung und die Effizienz des Verhaltens von
Menschen. Erfahrungen, die das "Selbst" verletzen
(z.B. Konflikte, Misserfolge, Erlebnisarmut), lösen
somit negative Gefühle (Angst, Scham, Aggression, Depression)
aus, welche in störenden Verhaltensweisen (z.B. Aggressionsausbrüche,
starke Unruhe, Tendenz zum Weglaufen) ihren Ausdruck finden
können (vgl. Romero, 1997, Kap. 1).
Ziel der SET ist der Erhalt dieses personalen "Selbst",
damit in der Folge die Effizienz des Verhaltens gefördert
und psychischem Leiden entgegengewirkt werden kann. Als
Resultat kommt es dann zu einer Reduktion von störendem
Verhalten (vgl. Romero, 1997, Kap. 1).
Im Verlauf einer Demenzerkrankung ist der Erhalt des stabilen
"Selbst" stark bedroht: Veränderte Lebensumstände
führen zu Gefühlen des Kontinuitätsverlusts,
und erlebnisarme Lebensbedingungen, Verlust von Welt- und
Selbstwissen, ein beeinträchtigter Kohärenzsinn
und Persönlichkeitsveränderungen bedrohen zudem
das Identitätsgefühl.
Gelingt es, diesen negativen Einflüssen auf das "Selbst"
entgegenzuwirken, so lassen sich auch das Ausmaß psychischer
Leiden und die Ausprägung des störenden Verhaltens
verändern. Eine adäquate Unterstützung des
"Selbst" fördert so die Effektivität
des alltäglichen Verhaltens, hat einen günstigen
Effekt auf den Verlauf der Krankheit und reduziert auch
das Leid der Angehörigen (vgl. Romero, 1997, Kap. 2).
Mittel zur verlängerten Erhaltung des Selbst sind die
Betreuungsform, psychotherapeutische Interventionen und
kognitive Übungsprogramme. Zusätzlich sollten
psychotische Symptome medikamentös behandelt werden.
Im Folgenden werden Inhalte und Ziele der Maßnahmen
zur Selbsterhaltung erläutert.
1.
Bewahren der Kontinuität
Einfach zusammengefasst, bedeutet dies, "vermeidbare
Veränderungen zu vermeiden" (Romero, 1998). Auf
das Umfeld bezogen, bedeutet Kontinuität, dass sowohl
die räumliche Umgebung und die "Dingwelt"
(z.B. Möbel) als auch die personelle Umgebung (Bezugspersonen)
möglichst konstant sein sollen.
Im sozialen und kulturellen Leben sollen angemessene soziale
Umgangsformen herrschen, wobei "es sich oft nur um
eine gute, unterstützende, nicht verletzende Ausdrucksweise"
(Romero, 1997) und den früheren Interessen des Einzelnen
entsprechende Beschäftigungsangebote handelt (vgl.
Romero, 1997, Kap. 3.1).
2.
Bewahren des Identitätsgefühls
Besondere Erlebnisse, wie z.B. die körperliche Erschöpfung
nach einer Wanderung, der Besuch beim Friseur oder ein Geschenk
fördern das Identitätsgefühl. Insgesamt betrachtet,
sind identitätsfördernde Erlebnisse solche, "die
mit dem Gefühl, 'sich ganz nahe zu sein' verbunden"
sind und die der Erlebnisarmut entgegenwirken (Romero, 1997,
Kap. 3.2).
3.
Bewahren des Kohärenzsinnes
"Kohärenzsinn" ist ein von A. Antonovsky
eingeführter Begriff und beschreibt Eigenschaften,
die einen Menschen befähigen, trotz großer Belastungen
psychisch gesund zu bleiben. Er ist bei Demenzerkrankten
durch "kognitive, emotionale und motivationelle Veränderungen
primärer und sekundärer Art sowohl beeinträchtigt,
als auch besonders gefordert." (Romero, 1997, Kap.
2.2). Der Kohärenzsinn besteht aus drei Komponenten:
Verstehen, Zuversicht und Sinn.
Das Verstehen
Das Verstehen bezieht sich auf Maßnahmen, die es dem
dementen Menschen erleichtern, Alltagsabläufe zu verstehen,
sie vorauszusagen und nachzuvollziehen. Dazu gehört
z.B. die Strukturierung der Umwelt und des Tagesablaufes.
Dies ist besonders bei beginnender Demenz sehr wichtig,
da hier Beeinträchtigungen bewusst erlebt werden und
beunruhigend wirken. Zum Verstehen gehört auch die
Aufklärung des dementen Menschen über die Diagnose
"Demenz", damit die Veränderungen, die ihm
widerfahren, als Krankheit und nicht als persönliches
Versagen eingeordnet werden können. Dies schützt
die Betroffenen vor Schuldgefühlen und Überforderung.
Kommunikationstechniken bilden einen weiteren Teil des Verstehens.
Diese sind an die Validationsmethode nach Feil angelehnt,
verzichten aber auf die zur Validation gehörende Bewertung.
"Psychodynamische Interpretationen der Konflikte und
die so begründeten Interventionen, die das Validationskonzept
miteinschließt, halten wir allerdings für Alzheimer-Kranke
für ungeeignet." (Romero, 1997, Kap. 3.3.1).
Die Zuversicht
Ziel ist es hier, dem Erkrankten zu vermitteln, dass er
trotz Demenz mit den Lebensanforderungen zurechtkommen kann.
Dies hängt zu einem großen Teil von der psychosozialen
Unterstützung der Betreuungspersonen ab. Die Betreuenden
sollen aus diesem Grund auf dementengerechte Umgangsformen
vorbereitet werden, damit in der Betreuung des dementen
Menschen Überforderungs- und Unterforderungssituationen
vermieden werden können und der Betroffene ein Gefühl
der Zuversicht und der Sicherheit erfahren kann (vgl. Romero,
1997, Kap. 3.3.2).
Der Sinn
Ein weiteres Grundelement des Kohärenzsinns ist der
Erhalt des Sinngefühls, in Bezug auf das Leben mit
einer Demenzerkrankung. In der SET wird deshalb betont,
dass der "weise Umgang" mit der Krankheit, die
Weiterführung eines "normalen Lebens" und
die Hervorhebung von Lebenszielen, die trotz Krankheit unverändert
bleiben (z.B. das Familienleben), entscheidend sind (vgl.
Romero, 1997, Kap. 3.3.3).
4.
Bewahren des Selbst-nahen Wissens
Der SET liegt die Annahme zugrunde, dass das Üben von
biographischem, selbstbezogenem Wissen zum Erhalt und zur
Reaktivierung dieses Wissens beiträgt. Die erste Phase
in der praktischen Umsetzung bildet die "Selbstdiagnose".
In Form von regelmäßig stattfindenden Therapiesitzungen
wird der Demenzerkrankte zum freien Erzählen motiviert.
Geschichten und Themen, die über einen längeren
Zeitraum wiederholt erzählt werden, bezeichnet Romero
als "Erinnerungsfiguren". Sie werden mit Hilfe
von Videoaufzeichnungen festgehalten. In der zweiten Phase,
dem "Aufbau eines externen Gedächtnisses",
werden die Videoaufzeichnungen durch halbstrukturierte Erzählungen
zu ausgewählten Themen (z.B. "Elternhaus",
"Beruf") erweitert. Neben den Videoaufzeichnungen
kann das "externe Gedächtnis" durch andere
Dinge, wie alte Photos, Lieder oder Gedichte ergänzt
werden. In den Therapiesitzungen der Folgezeit (Phase "Erhalten
des Selbst-nahen Wissens") wird die demente Person
erneut zum "freien Erzählen" angeregt. Das
"externe Gedächtnis" kann in dieser letzten
Phase zur Stimulation oder als Gedächtnisstütze
eingesetzt werden. Neben dem Erhalt des Selbst-nahen Wissens
hat das Erinnern noch weitere positive Auswirkungen auf
den Demenzerkrankten. Es kann z.B. ein gesteigertes Wohlbefinden
und Selbstwertgefühl erreicht werden (vgl. Romero,
1997, Kap. 3.4).
Durchgeführt
wurde die SET bisher in der ambulanten, teilstationären
und stationären Betreuung von dementen Menschen.
Der ambulante Einsatz der SET wurde bislang primär
in der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
in München erprobt. Die regelmäßig stattfindenden
Therapiesitzungen (einmal wöchentlich) sollten dabei
die Dauer von jeweils 1,5 Stunden nicht überschreiten,
sich insgesamt jedoch über einen sehr langen Zeitraum
erstrecken (mehrere Jahre). Die Vorgehensweise der ambulanten
psychologischen Behandlung nach dem Konzept der SET kann
verschiedene Komponenten beinhalten, wie z.B. den Durchlauf
der Therapiephasen "Selbst-Diagnose", "Aufbau
eines externen Gedächtnisses" und "Erhalten
des Selbst-nahen Wissens", das Herausfinden von individuell
geeigneten Beschäftigungsaufgaben im Alltag und in
der Freizeit oder die Förderung des Krankheitsverständnisses.
Der Erfolg der ambulanten Therapie ist besonders von der
Unterstützung durch Familienangehörige und Betreuungspersonen
abhängig. Aus diesem Grund sind Beratungsgespräche
mit dieser Personengruppe unerlässlich (vgl. Romero,
1997, Kap. 4.2).
In der teilstationären Betreuung dementer Menschen,
wurde das Konzept der SET z.B. in der Tagesstätte "Münchner
Altenwohnstift e.V." eingeführt. Romero betont,
dass die Einführung der SET unter psychologischer Supervision
der Mitarbeiter stattfinden soll. Im teilstationären
Bereich kommen verschiedene Selbst-erhaltende Maßnahmen
zum Einsatz. Dies sind z.B. biographieorientierte Gespräche
mit den dementen Menschen und ihren Angehörigen, Raumgestaltung
(z.B. Photo-Ecke, vertraute Gegenstände von zu Hause)
oder Beschäftigungsangebote, die den individuellen
Interessen des Einzelnen entsprechen und nicht so wirken,
als wären sie "Programmen für Kinder- bzw.
Jugendgruppen entnommen" (Romero, 1997, Kap. 4.1).
Stationär wird die SET in dem 1999 gegründeten
Alzheimer Therapiezentrum der Neurologischen Klinik Bad
Aibling unter der Leitung von B. Romero praktiziert. Das
stationäre Behandlungsprogramm erstreckt sich über
vier Wochen und sieht die Aufnahme des Demenzerkrankten
und der ihn betreuenden Person vor. Im Mittelpunkt der Behandlung
stehen die Diagnoseüberprüfung, die medikamentöse
Therapie und die SET. Hier werden täglich, innerhalb
eines Zeitrahmens von fünf Stunden, Einzel- und Gruppentherapien
angeboten (u.a. Therapie zur Erhaltung von biographischem
Wissen, Kunsttherapie, Sport, Alltags- und Freizeitaktivitäten).
Ergänzt werden diese Angebote durch Beratungsgespräche,
die z.B. Themen wie die individuelle Planung der Alltagsbeschäftigungen
und der Lebensgestaltung zu Hause oder die Möglichkeiten
von externen Hilfen (z.B. ambulante Pflege, Tagespflegeeinrichtungen,
Selbsthilfegruppen) aufgreifen (vgl. Jahresbericht 1999).
Die praktische Umsetzung der SET befindet sich noch in der
Probephase, die Weiterentwicklung des Konzepts wird jedoch
angestrebt. Um die Anwendung in Institutionen (stationäre
und teilstationäre) und in der familiären Betreuung
auszudehnen, sollen zukünftig die Schulungs- und Beratungsangebote
für die Vermittlung der Betreuungsprinzipien der SET
verbessert werden.
Außerdem ist der Einsatz von Multimedia-PCs als Träger
des "externen Gedächtnisses" geplant, um
den Zeitaufwand der Erstellung zu reduzieren. Gleichzeitig
soll die Bedienung des Computerprogramms so unkompliziert
sein, dass die regelmäßige Anwendung des SET-Programms
für den dementen Menschen auch zu Hause möglich
wird (vgl. Romero, 1997, Kap. 5).
5.7
Personenzentrierter Ansatz
5.7.1 Theoretischer Hintergrund
Der personenzentrierte Ansatz wurde von Tom Kitwood, einem
englischen Sozialpsychologen, in den Jahren 1987 bis 1995
entwickelt. Da sich dieses Konzept auf ein etwas anderes
theoretisches Modell stützt als die vorgenanntenKonzepte,
sollen zuerst die zentralen Aussagen Kitwoods vorgestellt
werden. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht ganz
eindeutig der demente Mensch als Person. Im Gegensatz zu
vielen anderenKonzepten ist Kitwoods Auffassung einer optimalen
Betreuung weniger vom Versuch beherrscht, in irgendeiner
Weise auf den Betreuten einzuwirken. Optimale Betreuung
in seinem Sinne zeigt eher die Tendenz, das komplette "Rundherum",
insbesondere die Pflegebeziehung, so auf den Betreuten auszurichten,
dass dieser möglichst wenig durch sein "Betreutwerden"
beeinträchtigt und das Wohlbefinden der Betreuten und
der Betreuenden gesteigert wird.
Das Konzept baut auf drei Hauptaussagen auf, die im Folgenden
erläutert werden.
1)
Depersonalisierung als Abwehrmechanismus
Hauptthema im personenzentrierten Ansatz Kitwoods ist das
"Personsein": "Es ist ein Stand oder Status,
der dem einzelnen Menschen im Kontext von Beziehung und
sozialem Sein von anderen verliehen wird. Er impliziert
Anerkennung, Respekt und Vertrauen." (Kitwood, 2000,
S. 27). Nach Kitwood hat sich heute infolge des Einflusses
der Individualisierung das Personsein auf zwei Kriterien
reduziert: Autonomie und Rationalität. Menschen, die
diese Kriterien nicht erfüllen, werden aus dem Kreis
der "Personen" ausgeschlossen. Das betrifft insbesondere
Menschen mit seelischen oder schweren körperlichen
Behinderungen, zu denen in besonderem Maße gerade
Demenzerkrankte gehören. Noch dazu sind demente Menschen
alte Menschen, die von vornherein als gesellschaftliche
Last gelten, abgewertet werden und Diskriminierungen ausgesetzt
sind. Dies führt dazu, dass sie sehr rigoros aus dem
Kreis der "Personen" ausgeschlossen werden, ein
Vorgang, den Kitwood als Depersonalisierung bezeichnet (vgl.
Kitwood, 2000, S. 25-34).
In diesem Zusammenhang spielt die Tatsache, dass "Demenz"
ein Angstthema ist, welches unzureichend geschulte Betreuer
zu inadäquaten Verhaltensweisen veranlassen kann, eine
große Rolle. Zweierlei Ängste können vom
Thema Demenz ausgelöst werden:
Erstens die Angst vor Gebrechlichkeit und damit verbundener
Abhängigkeit, vor einem langen Sterbeprozess und allgemein
vor dem Tod.
Zweitens die Angst vor geistiger Instabilität, vor
dem Wahnsinnigwerden (vgl. Kitwood, 2000, S. 34).
Diese Ängste fördern in Verbindung mit dem Wissen,
dass jeder an Demenz erkranken kann und dass die Zahl der
Neuerkrankungen zunimmt, spezifische Abwehrreaktionen, die
einer dementengerechten Betreuung abträglich sind.
Diese Abwehrreaktion (Depersonalisierung) bedeutet, dass
die Betroffenen nicht mehr als "Personen" gesehen
und damit aus der Wahrnehmung ausgeblendet werden. Sie erscheinen
dann nicht mehr als dem eigenen Personenkreis zugehörig,
was die Bedrohung durch die Krankheit Demenz subjektiv reduziert.
Kitwood nennt solche entpersonalisierenden Tendenzen im
Pflegealltag "maligne, bösartige Sozialpsychologie".
Aufgrund von dokumentierten Vorkommnissen im Pflegealltag
ordnet er solche Verhaltensweisen in 17 verschiedene Kategorien
ein, zu denen beispielsweise zählt:
· das Einschüchtern: "durch Drohungen oder
körperliche Gewalt bei jemanden Furcht hervorrufen."
(Kitwood, 2000, S. 75).
· das Entwerten: "die subjektive Realität
des Erlebens und vor allem die Gefühle einer Person
nicht anerkennen." (Kitwood, 2000, S. 76).
· das Ignorieren: "in jemandes Anwesenheit einfach
in einer Unterhaltung oder Handlung fortfahren, als sei
der bzw. die Betreffende nicht vorhanden." (Kitwood,
2000, S. 76).
Mit
der Depersonalisierung geht meistens eine Vernachlässigung
einher: "Belege aus vielen Studien zeigen, dass Menschen
mit Demenz in Heimpflege typischerweise sehr lange Zeiten
ohne menschlichen Kontakt zubringen." (Kitwood, 2000,
S.79). Eine Studie von Tessa Perrin (1997) belegt beispielsweise,
dass demente Menschen in stationären Einrichtungen
etwa 50% des Tages ohne direkten menschlichen Kontakt zubringen
und Interaktionen überwiegend sehr kurz und oberflächlich
sind (vgl. Perrin, 1997, S. 937f.).
2)
Standardparadigma
Unter Standardparadigma versteht Kitwood "das gesamte
Rahmenwerk, in das Forschungsergebnisse gewöhnlich
eingeordnet werden" (Kitwood, 2000, S. 63) und das
von der Psychiatrie und anderen wissenschaftlichen Disziplinen
in Bezug auf Neuropathologie, Biochemie und Genetik der
Demenz geschaffen wurde.
Kitwood kritisiert vor allem, dass im allgemeinen nur neurologische,
nicht aber auch sozialpsychologische Veränderungen
beleuchtet werden. So beinhaltet die Stadieneinteilung für
den Schweregrad von Demenz zwangsläufig eine Verschlechterung
aufgrund neuropathologischer Befunde, obwohl nicht unbedingt
ein Zusammenhang zwischen Symptomen einer Demenz und neuropathologischen
Veränderungen bestehen muss. "Es können beträchtliche
neuropathologische Zustände ohne Demenz vorliegen,
und es kann eine Demenz ohne signifikante Neuropathologie
bestehen." (Kitwood, 2000, S.61). Vor allem beanstandet
Kitwood, dass dabei die Einzigartigkeit der Person, nämlich
wie sich Demenz individuell äußert, verschleiert
wird. Er geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er
die Möglichkeiten, Demenz zu diagnostizieren, prinzipiell
in Frage stellt. Seiner Ansicht nach kann mit den bestehenden
Diagnosemethoden gar keine klare Diagnose gestellt werden.
Zur Diagnostik eingesetzte Tests, wie z.B. der MMSE, geben
lediglich Auskunft über die kognitive Leistungsfähigkeit
zu einem bestimmten Zeitpunkt (vgl. Kitwood, 2000, S. 42-52).
Problematische Merkmale des Standardparadigmas entstehen
aus der technischen Herangehensweise, bei der nicht die
Person mit Demenz im Mittelpunkt steht, sondern das Krankheitsbild.
Gefördert wird hierdurch eine negative, deterministische
Sichtweise, nach der eine Verbesserung nur durch einen medizinischen
Durchbruch erzielt werden kann und der Beitrag des Pflegeprozesses
und die Qualität der Betreuung zweitrangig wird. Eine
ähnliche Problematik erwächst nach Kitwood aus
den geltenden Vorstellungen über die organische Grundlage
von Demenz. Die Theorie der Verursachung (genetische Grundursache)
ist seiner Meinung nach unsolide: "In gewissem Sinne
verursachen' Gene nichts; sie sind einfach nur ein
Hintergrund, vor dem andere Ursachen operieren." (Kitwood,
2000, S. 62).
Kitwood geht davon aus, dass alle Ereignisse im Erleben
einer Person ihr Gegenstück in der Hirnaktivität
haben und dass der Prozess der Demenz daher ein dialektisches
Wechselspiel zwischen Faktoren der Neuropathologie und solchen
der Sozialpsychologie ist. Während die neurologische
Beeinträchtigung und die "maligne, bösartige
Sozialpsychologie" das Personsein untergraben, kann
seiner Meinung nach gute Pflege eine bessere Nervenfunktion
fördern und eventuell sogar eine Nervenregeneration
ermöglichen (vgl. Kitwood, 2000, S. 79-84). Medizinische
Forschungsergebnisse belegen Kitwoods These, dass die Pflegepraxis,
beziehungsweise das psychosoziale Umfeld, das neuronale
Wachstum beeinflussen kann. Zu diesen Ergebnissen kommen
u.a. Forschungsgruppen aus Schweden, wie Karlsson et al.
(1988) oder Brane et al. (1989) (vgl. Kitwood, 2000, S.
96).
3)
Organisationsstil
Neben dem "Standardparadigma" trägt auch
die Struktur der "für- und versorgenden Organisationen"
dazu bei, die depersonalisierenden Tendenzen in der Demenzpflege
zu untermauern. Kitwood geht davon aus, dass die Situation
der Mitarbeiter einer Pflegeeinrichtung einen großen
Einfluss auf die Situation der Betreuten hat. "Werden
Angestellte alleingelassen und mißbraucht, so werden
es die Klienten vielleicht auch." (Kitwood, 2000, S.
151).
Die Arbeitssituation wird stark von der Struktur und dem
Stil der versorgenden Organisation geprägt. Weist die
Organisation ein hohes Machtgefälle zwischen den unterschiedlichen
Mitarbeitergruppen (Manager, leitende Pflegekräfte,
Pflegepersonal) auf, so wirkt sich diese stark hierarchische
Struktur auf die zu Betreuenden, die den niedrigsten Status
innehaben, aus. "Diese Unterteilungen erzeugen eine
Schranke zwischen dem Personal und den Klienten, welche
leicht zu Fremden oder Unpersonen gemacht werden."
(Kitwood, 2000, S. 153). Eine solche Organisationsstruktur
behindert eine befriedigende Kommunikation sowohl unter
den Mitarbeitern als auch zwischen dem Pflegepersonal und
den dementen Personen. Die Kommunikation kann lediglich
auf einem unpersönlichen, emotionslosen Weg ablaufen
und demenztypisches Problemverhalten wird nicht als Kommunikationsversuch
oder Ausdruck unbefriedigter Bedürfnisse gesehen, sondern
rein technisch, in Form der medikamentösen Therapie,
behandelt (vgl. Kitwood, 2000, S. 152-155).
Ein weiterer Faktor, der die Arbeitssituation von Betreuungspersonen
in der Demenzpflege beeinflusst, bildet die Unterstützung
der Mitarbeiter durch organisatorische Maßnahmen.
Dazu gehören nach Kitwood u.a. eine angemessene Bezahlung,
eine gute Einarbeitung, das Angebot von Supervision und
Fortbildungen, die Förderung der Teamarbeit, die Möglichkeit
der beruflichen Beförderung und eine effiziente Qualitätssicherung
in der Pflegeplanung, d.h. Pflegekräfte sollen an der
Pflegeplanung und -weiterentwicklung mitwirken (vgl. Kitwood,
2000, S. 159-163).
Das Fehlen von Unterstützungsmaßnahmen dieser
Art hat negative Auswirkungen auf das Wohlbefinden der betreuenden
Personen. Die Arbeit wird als belastender wahrgenommen,
und die Arbeitszufriedenheit ist insgesamt gering. In diesem
Zusammenhang steigt die Gefahr des Burn-out. "In der
Praxistradition, die wir geerbt haben, in der das Personal
bei seiner Arbeit sehr wenig Unterstützung und Hilfe
bekam, war die Mehrzahl derer, die dies überlebt haben,
möglicherweise in einen chronischen Zustand des Burn-out
auf niedrigem Level gelangt." (Kitwood, 2000, S. 158).
Diese Problematik hat zur Folge, dass die unbefriedigende
Situation der Mitarbeiter Auswirkungen auf das Wohlbefinden
der dementen Personen hat. Aus Gründen des Selbstschutzes
vor Arbeitsüberforderung wird die Betreuung Demenzerkrankter
auf ein Minimum reduziert, d.h. die Versorgung beschränkt
sich im Wesentlichen auf die Körperpflege und die Befriedigung
von Grundbedürfnissen, wie z.B. Ernährung und
Kleidung (vgl. Kitwood, 2000, S. 156-159). Vor diesem Hintergrund
können leicht depersonalisierende Tendenzen in den
Pflegealltag integriert und durch die "kollektive Anwendung"
des Pflegepersonals besonders verfestigt werden.
Aus den genannten Aspekten resultiert eine Pflegepraxis,
die Kitwood als "alte Pflegekultur", "eine
Kultur des Sich-Abwendens und der Entfremdung" (Kitwood,
2000, S. 196) bezeichnet. Dieser Begriff steht für
eine inadäquate Betreuung dementer Menschen, die das
Personsein ignoriert und das Wohlbefinden sowohl der Betreuten
als auch der Betreuenden negativ beeinflusst.
5.7.2 Personenzentrierte Pflege
Kitwood stellt die Hypothese auf, dass eine personenzentrierte
Pflege den Prozess einer Demenzerkrankung positiv beeinflussen
kann. "In einem optimalen Kontext von Pflege und Fürsorge
wird jedes Fortschreiten der neurologischen Beeinträchtigung
... , das bei einer nichtunterstützenden Sozialpsychologie
potentiell extrem schädigend sein kann, durch positive
Arbeit an der Person ... kompensiert." (Kitwood, 2000,
S. 103). Der Erhalt des Personseins stellt für ihn
das oberste Ziel einer qualitativ hochwertigen Demenzpflege
dar.
Eine Grundvoraussetzung dafür ist die Befriedigung
von Bedürfnissen dementer Menschen, da "ein Mensch
ohne dessen Befriedigung nicht einmal minimal als Person
funktionieren kann." (Kitwood, 2000, S. 121). Unter
die demenzspezifischen Bedürfnisse fasst er eine Gruppe
von Bedürfnissen, die sich nicht klar voneinander trennen
lassen, sondern kooperativ funktionieren. Das Bedürfnis
nach Liebe stellt dabei ein allumfassendes Bedürfnis
dar, welches von dementen Menschen deutlich zum Ausdruck
gebracht wird. Demenzerkrankte zeigen "oft ein unverhülltes
und beinahe kindliches Verlangen nach Liebe." (Kitwood,
2000, S. 121). Ein zweites Bedürfnis ist das Bedürfnis
nach Trost, das infolge von starken Verlusten, z.B. der
Verlust von Fähigkeiten oder des bisherigen Lebensstils,
bei dementen Menschen besonders stark ausgeprägt ist.
Die Demenzerkrankung löst außerdem Gefühle
der Angst und der Unsicherheit bei der betroffenen Person
aus. Um ein Sicherheitsgefühl zu erhalten, ist das
Bedürfnis nach einer primären Bindung bedeutend.
Als viertes Bedürfnis nennt Kitwood das Bedürfnis
nach Einbeziehung. Darunter versteht er das Bestreben der
dementen Person, sich als Teil einer Gruppe zu fühlen,
das sich z.B. in "aufmerksamkeitheischendem Verhalten",
wie Unruhe oder Schreien, äußert. Ein weiteres
Bedürfnis ist das nach Beschäftigung, d.h. danach,
etwas Sinnvolles zu tun, "eine Art von Projekt zu haben."
(Kitwood, 2000, S. 124). Ausdruck findet dieses Bedürfnis
beispielsweise in Form von Hilfsbereitschaft oder Aktivität
der dementen Menschen. Das sechste Bedürfnis dementer
Menschen ist das nach Identität. Durch die Krankheit
Demenz wird das Identitätsgefühl stark bedroht,
so dass der Wunsch nach identitätserhaltenden Maßnahmen
besonders ausgeprägt ist. Die Befriedigung der genannten
Bedürfnisse ermöglicht es dem dementen Menschen,
sich als Person wahrzunehmen und positive Gefühle (sich
wertvoll und geschätzt zu fühlen) zu erleben (vgl.
Kitwood, 2000, S. 121-125).
Laut Kitwood hängt die Pflegequalität in der Demenzbetreuung
primär von der Qualität der Pflegebeziehung und
der Interaktionsfähigkeit des Pflegepersonals ab. Positive
Interaktion ist in seinen Augen "die wahrhaft heilende
Komponente der Pflege." (Kitwood, 2000, S. 195). Kitwood
führt unterschiedliche Arten der positiven Interaktion
auf, die im Folgenden dargestellt werden (vgl. Kitwood,
2000, S. 133-137):
· Anerkennen: Der demente Mensch wird als Person
anerkannt, dies kann verbal (z.B. jemanden grüßen)
oder nonverbal (z.B. durch Blickkontakt) zum Ausdruck gebracht
werden.
· Verhandeln: Der demente Mensch wird direkt nach
seinen Wünschen und Bedürfnissen gefragt und diese
werden im Betreuungsalltag berücksichtigt.
· Zusammenarbeiten: Der demente Mensch erhält
die Möglichkeit, sich aktiv an der Pflege und Alltagsbeschäftigungen
zu beteiligen (z.B. Haushaltsarbeiten, Körperpflege).
· Spielen: Der demente Mensch hat die Möglichkeit,
an nicht zielgerichteten Aktivitäten teilzunehmen,
die die Spontaneität und den Selbstausdruck fördern.
· Timalation: Interaktionen mit Hilfe von Aktivitäten,
welche die Sinne ansprechen (z.B. Massage, Aromatherapie).
· Feiern: Interaktion, bei der in geselliger Stimmung
ein Gefühl der Nähe und Gleichheit zwischen Betreuten
und Betreuern aufkommt.
· Entspannen: Demente Menschen können oft nur
in Gesellschaft oder bei Körperkontakt entspannen.
Drei
weitere Interaktionsformen sind psychotherapeutisch ausgerichtet.
Dazu zählen:
· Validation: Die subjektive Realität und die
Gefühle einer Person werden anerkannt und die Kommunikation
findet auf der Gefühlsebene statt.
· Halten: Das Schaffen einer Atmosphäre, die
einer Person den Halt und die Sicherheit bietet, auch negative
Emotionen auszudrücken.
· Erleichtern: Handlungen einer dementen Person unterstützen,
aber nur soweit, wie es notwendig ist.
Die
folgenden Interaktionsarten sind Beispiele für Interaktionen,
die von dem dementen Menschen ausgehen:
· Schöpferisch sein: Die demente Person bietet
spontan eine Interaktion an (z.B. singen, tanzen).
· Geben: Die demente Person bringt ihre persönliche
Beziehung zu einer Betreuungskraft zum Ausdruck (z.B. Zuneigung,
Dankbarkeit).
Die
Umsetzung der oben genannten positiven Interaktionsarten
hängt überwiegend von den äußeren Arbeitsbedingungen
der versorgenden Organisation, welche das Wohlbefinden der
Pflegekraft beeinflussen (siehe oben) und von der Person
selbst ab. Kitwood ist der Auffassung, dass nicht jeder
für die Betreuung dementer Menschen geeignet ist. Das
wichtigste Kriterium stellt für ihn die grundlegende
Einstellung und Haltung einer Person dar.
Des weiteren spielt die Interaktionsfähigkeit einer
Pflegeperson eine entscheidende Rolle. Diese ist stark von
der Fähigkeit der Person geprägt, dem Betreuten
"freie Aufmerksamkeit" zu schenken, d.h. "für
eine andere Person ohne Ablenkung von außen und Störung
von innen präsent zu sein und den anderen mit weitaus
weniger Verzerrung, Projektionen und von Vorurteilen getragenen
Reaktionen, wie sie echte Begegnungen oft hemmen, wahrzunehmen."
(Kitwood, 2000, S. 172). Dies kann erst dann gelingen, wenn
eine Auseinandersetzung mit den eigenen emotionalen Belastungen
und dem eigenen Lebenskonzept, worunter er die Entwicklung
von Verhaltensmustern seit der Kindheit fasst, stattgefunden
hat. Außerdem muss sich die Betreuungsperson selbst
wohlfühlen, offen und flexibel sein und nicht als "kontrollierend-kritisches
Elternteil" gegenüber dem dementen Menschen agieren
(Kitwood, 2000, S. 174). Die Fähigkeit zur Empathie
gehört ebenfalls zu den Voraussetzungen einer positiven
Interaktion. Empathie bedeutet für Kitwood nicht die
Fähigkeit, das zu fühlen, was eine andere Person
fühlt, sondern ein Verständnis für das Erleben
und Leben eines dementen Menschen zu haben. Das Bewusstsein
von eigenen demenzartigen Erfahrungen, wie z.B. das Gefühl
des Verlassenseins oder der Machtlosigkeit, erleichtern
es der Pflegekraft, die Gefühle einer dementen Person
zu verstehen.
Der
von Kitwood entwickelte Ansatz der personenzentrierten Pflege
stellt die Einzigartigkeit der Person in den Mittelpunkt,
und der Erhalt und die Stärkung des Personseins ist
sein oberstes Ziel in der Betreuung dementer Menschen. Die
aus diesem Konzept resultierende Grundhaltung gegenüber
Demenz und dementen Menschen und die "positive Arbeit
an der Person" bilden die Basis für den Wandel
der "alten" in eine "neue" Pflegekultur
(vgl. Kap. 6.1).
Ein weiterer elementarer Bestandteil des personenzentrierten
Ansatzes ist das von Kitwood entwickelte Dementia Care Mapping-Verfahren.
5.7.3 Dementia Care Mapping
Das Verfahren des "Dementia Care Mapping" (DCM)
wurde von Tom Kitwood und einer Arbeitsgruppe zur Qualitätssicherung
in der Demenzpflege an der Universität Bradford entwickelt.
Es bestimmt anhand standardisierter Parameter das relative
Wohlbefinden, bzw. das Unwohlsein Demenzerkrankter, da sich
diese Personen darüber selbst nicht gut äußern
können. DCM dient "diesem Personenkreis sozusagen
als Sprachrohr" (Strunk-Richter, 2001). Dabei soll
der Pflegeprozess möglichst detailliert erfasst und
eine "landkartenähnliche Darstellung des Verhaltens
von Menschen mit Demenz" (Strunk-Richter, 2001) erstellt
werden. Die gesammelten Daten geben dann Auskunft über
Wohlbefinden und Zufriedenheit der dementen Menschen. Anwendung
findet dieses Verfahren in stationären und teilstationären
Einrichtungen der Altenhilfe. Als Evaluierungsinstrument
der Pflegepraxis dient es einerseits dazu, den Ist-Zustand
festzustellen, es eignet sich bei wiederholtem Einsatz andererseits
aber auch sehr gut dazu, Änderungen zu dokumentieren
und zu evaluieren (vgl. Strunk-Richter, 2001).
Ziel des DCM ist die Steigerung des Wohlbefindens dementer
Menschen durch die Verbesserung der Pflegequalität,
da die Messung durch ihre Möglichkeit, den Pflegeprozess
gezielt und kontinuierlich zu beobachten, Anhaltspunkte
gibt, wie die Pflege verbessert werden kann. Dahinter steht
die Grundhypothese, dass Pflegequalität über das
Wohlbefinden der Betreuten indirekt gemessen werden kann.
"Wenn es dem Menschen mit Demenz relativ gut geht,
dann ist dies ein wesentliches Kriterium für eine gute
Pflegequalität." (Müller-Hergl, 2001b)
Personen, die DCM durchführen, werden "Mapper"
(Abbildner) genannt. Sie beobachten eine demente Person,
bzw. Personen und den Pflegeablauf in einer Einrichtung
der Altenhilfe kontinuierlich für mindestens sechs
Stunden. Als Mapper kommen Personen mit unterschiedlicher
Ausbildung, z.B. Pflegekräfte (jedoch nicht von der
Einrichtung, die "gemappt" wird), in Frage. Sie
sollten die formale Qualifikation zum Mapper durch Ausbildung
bzw. Schulung erlangt haben, als noch wichtiger wird aber
"Kommunikationsfähigkeit, Gruppengespür,
Bereitschaft, sich auseinanderzusetzen" erachtet, denn
"wenn die Mapper sich nicht um die Pflegenden kümmern,
dann kümmern sich die Pflegenden auch nicht um die
Daten des Mappers." (Müller-Hergl, 2001b).
Praktische
Anwendung
Alle fünf Minuten wird das Verhalten der beobachteten
Personen (jede Person separat) vom Mapper nach einem bestimmten
System kodiert. Dieses Kodierungssystem umfasst 24 Kategorien,
die Wohlbefinden oder Unwohlsein spiegeln, wie beispielsweise
· C (cool): Sozial unbeteiligt, in sich gekehrt
· E (expression): Kreativ beschäftigt, Selbstausdruck
· L (labour): Mitarbeiten
· U (unresponded to): Kommunikationsversuch ohne
Antwort
Jeder
Verhaltenskategorie wird ein Wert (+5, +3, +1, -1, -3, -5)
zugeordnet, wobei der Wert +5 ein hohes Wohlbefinden und
der Wert -5 ein hohes Unwohlsein ausdrückt
Ergänzt wird die Datensammlung durch Beobachtungen
von "Personal Detractions", d.h. Verhaltensweisen
von Betreuungspersonen, die das Personsein eines dementen
Menschen untergraben und sich negativ auf dessen Wohlbefinden
auswirken. Diese entsprechen den 17 depersonalisierenden
Tendenzen, die in Kapitel 5.7.1 näher erläutert
wurden. Sie werden vom Mapper bewertet (mild, mäßig,
schwer, sehr schwer) und notiert. Daneben werden auch besonders
positive Ereignisse (z.B. Interaktionen, die das Wohlbefinden
sichtbar steigern) schriftlich festgehalten (vgl. Strunk-Richter,
2001).
Aus den so gesammelten Daten werden verschiedene Summenwerte
errechnet. Für jede Einzelperson ein "individual
care score", für die beobachtete Gruppe ein "group
care score" und ein Quotient für die Demenzpflege
(DCQ), der die Pflegebeziehung zwischen Betreuten und Betreuern
abbildet (vgl. Perrin, 1997, S. 935). "Die Analyse
der Daten ist wie ein Fingerabdruck: Stärken und Schwächen
im Prozess werden offenbar, Bevorzugungen bestimmter Bewohner
oder Vernachlässigung anderer manifest, der Erfolg
von Maßnahmen wird transparent und der Zusammenhang
von Tagesstruktur und Wohlbefinden analysierbar." (Müller-Hergl,
2001b).
Zusätzlich erfolgt ein Feedbackgespräch, in dem
die Messergebnisse dem Pflegeteam mitgeteilt werden und
ein Handlungsplan, der Strategien zur Optimierung der Pflegequalität
beinhaltet, gemeinsam erarbeitet wird. Nach einem gewissen
Zeitabstand soll ein erneutes Mappen erfolgen, um die Entwicklungsziele
zu überprüfen. Außerdem soll ein DCM-Verfahren
durch einen dreitägigen Lehrgang für Betreuungspersonen
ergänzt werden (vgl. Müller-Hergl, 2001b).
Während DCM in England weit verbreitet ist, beginnt
die Einführung in Deutschland nur zögerlich. Momentan
wird ein Bundesmodellprojekt zur Verbesserung der Situation
Demenzkranker in Pflegeheimen durchgeführt. In diesem
drei Jahre dauernden Projekt soll die Anwendung von DCM,
die praktische Erprobung und Analyse des Verfahrens erfolgen.
Das Projekt startete im Januar 2002 im Landkreis Marburg-Biedenkopf
und dem Main-Kinzig Kreis und soll später in den Städten
Aachen, Münster und Brandenburg zur Anwendung kommen
(vgl. Kap. 6.2).
5.8
Kritische Betrachtung der Betreuungskonzepte
In diesem Kapitel sollen die vorgestellten Betreuungskonzepte
hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Unterschiede betrachtet
werden. Dies soll aus verschiedenen Blickwinkeln geschehen.
Zum einen soll dargestellt werden, welche Effekte bestimmte
Betreuungskonzepte in Bezug auf demente Menschen erzielen.
Zum anderen soll gezeigt werden, welche Rolle der betreuenden
Person in bestimmtenKonzepten zukommt. Außerdem soll
die praktische Umsetzbarkeit einzelnerKonzepte bewertet
werden.
5.8.1 Betreuungsmaßnahmen und ihre Auswirkungen auf
demente Menschen
Grundsätzlich lassen sich die Ziele der Betreuungsmaßnahmen,
wie sie in den verschiedenen theoretischen Betreuungskonzepten
postuliert werden, zwei Gruppen zuordnen.
Auf der einen Seite steht das Lager der "Interventionisten".
Ihre Betreuungskonzepte bauen darauf, durch gezielte Maßnahmen
auf Defizite und Ressourcen des dementen Menschen einzuwirken
und somit das Wohlbefinden dieses Personenkreises zu bewahren,
bzw. zu steigern. Diese Form der Demenzpflege steht für
eine "dementengerechte Betreuung".
Auf der anderen Seite steht das Lager der "Interagierenden".
Ihre Betreuungskonzepte verfolgen das Ziel, durch spezielle
Interaktionen primär auf das Wohlbefinden des dementen
Menschen einzuwirken. Das Wohlbefinden wirkt sich dann im
zweiten Schritt positiv auf Symptome der Demenzerkrankung
aus. Bei der Demenzpflege nach "interagierenden"Konzepten
handelt es sich also eher um eine "demenzgerechte Begleitung".
Zu den "Interventionisten" zählen meiner
Einschätzung nach die das Realitätsorientierungstraining,
die Milieutherapie, die Selbst-Erhaltungs-Therapie und die
Biographiearbeit.
Realitätsorientierungstraining
Auf das Ziel, kognitive Fähigkeiten zu steigern und
Orientierung (zeitliche, personelle, örtliche) zu verbessern
wirkt die Intervention "orientierungsunterstützende
Maßnahmen" (vgl. Kap. 5.1) hin.
Das ROT war im Prinzip der erste klare Versuch der positiven
Interaktion mit dementen Menschen und Ausdruck dafür,
"daß es die Mühe lohnt zu versuchen, sie
zu einer 'normalen' Lebensweise zurückzuführen"
(Kitwood, 2000, S. 87). Mit der Entwicklung des ROT wird
erstmals die Einzelperson mit Demenz berücksichtigt
und nicht nur die Krankheit Demenz gesehen. Nachteile sind,
dass es leicht zur Überforderung der Demenzerkrankten
kommen kann, wenn sie mit Zwang aus ihrer subjektiven Realität
herausgerissen und mit ihren Defiziten konfrontiert werden.
Unter anderem ist das ROT aus diesem Grund recht umstritten.
Forschungsergebnisse zeigen letztlich kaum positive Auswirkungen
des ROT. J. T. Dietch führt aus, dass positive Effekte
lediglich in Form einer gesteigerten verbalen Orientierung
nachzuweisen sind (vgl. Dietch, 1989, S. 974). "For
those patients with dementia, the constant relearning of
the material necessary to remain oriented is a difficult
task that can lead to frustration, anxiety, depression,
and a lowering of selfesteem." (Dietch, 1989, S. 974).
M. People fand in einem Vergleich der Auswirkungen von ROT
und Validation in einem Pflegeheim weder positive noch negative
Auswirkungen durch die Anwendung von ROT (vgl. Feil 2000,
S. 41).
Naomi Feil beschreibt negative Erfahrungen bei der Anwendung
des ROT: "Ich gab das Ziel der Orientierung auf die
Realität auf, als ich bemerkte, daß die Gruppenmitglieder
sich immer dann zurückzogen oder zunehmend feindselig
wurden, wenn ich sie mit der unerträglichen Realität
der Gegenwart zu konfrontieren versuchte." (Feil, 2000,
S. 9)
Heute findet das ROT als alleiniges Konzept kaum noch Anwendung,
da der korrigierende Ansatz sich auf den dementen Menschen
belastend auswirkt (vgl. Baier, 2001, S. 392).
Milieutherapie
Ziel der Milieutherapie ist die Kompensation von Defiziten
durch die Intervention "Umweltanpassung" (soziales
Milieu, Tagesstrukturierung, räumliches Milieu). Dabei
wird die Umgebung der Demenzerkrankten entsprechend ihrer
Defizite und Ressourcen gestaltet.
Die Milieutherapie stellt ein sehr umfassendes Konzept dar,
welches viele Teilaspekte der Demenz und des Individuums
(biographieorientiert, kompetenzorientiert) berücksichtigt.
Negativ kann der primär defizitäre Ansatz eingestuft
werden, der an der eingeschränkten Umweltkompetenz
ansetzt. Somit richtet sich das Augenmerk vor allem auf
das, was der Betroffene nicht mehr kann und nicht auf die
Fähigkeiten, die ihm noch erhalten geblieben sind,
was meiner Ansicht nach genau umgekehrt sein sollte.
Die Milieutherapie ist in der praktischen Umsetzung oft
nur ein Bestandteil in der Betreuung dementer Menschen,
das bedeutet, dass oft nur Teilbereiche der Milieutherapie
in der Praxis berücksichtigt werden. Für Untersuchungsergebnisse
hat dies zur Folge, dass oft keine genauen Rückschlüsse
auf die ursächliche Wirkung der Milieutherapie hinsichtlich
des Wohlbefindens der Demenzerkrankten gezogen werden kann.
So ist im Projekt "Seniorenheim Polle" und im
"Hamburger Modellprojekt" die Milieutherapie jeweils
Teil des Gesamtkonzepts. In beiden Projekten wird eine allgemeine
Steigerung des Wohlbefindens der Betreuten beschrieben,
der Anteil der Milieutherapie an diesem Effekt ist aber
nicht genau definierbar. Direkte Studien zur Milieutherapie
belegen aber deren positive Auswirkungen (mehr Aktivität,
Kommunikation, weniger Unruhe, "Katastrophenreaktionen")
(Heeg, 2001, S. 110). Wenige Studien untersuchten die Auswirkungen
des architektonisch-baulichen Milieus. Es konnte aber der
positive Effekt von Orientierungshilfen und "Szenarien
mit Aufforderungscharakter", wie z.B. Speisesaalmöblierung
(positive Auswirkung auf Kommunikation und Essverhalten)
oder "dementengerechte" Beleuchtung (stimmungsaufhellend,
aggressionsdämpfend) gezeigt werden (Wojnar, 2001c,
S. 156f.).
Selbst-Erhaltungs-Therapie
und Biographiearbeit
Ziel beiderKonzepte ist es, die Identität, die durch
die Erkrankung Demenz bedroht ist, zu erhalten. Dazu werden
sogenannte "identitätsstabilisierende" Interventionen
eingesetzt, welche das Erhalten des personalen Selbst anstreben.
BeidenKonzepten ist gemeinsam, dass man sie als ressourcenorientierte
Ansätze einstufen kann, wobei ein zentraler Aspekt
die Stützung des Langzeitgedächtnisses ist. Insgesamt
gesehen steht bei beiden Modellen, die jeweils einen sehr
umfassenden Ansatz darstellen, das Individuum im Mittelpunkt.
Als negativ kann sich die Konfrontation der Betroffenen
mit der Vergangenheit auswirken, da hieraus eine Überforderung
resultieren kann. Ähnliches gilt auch für die
zur SET gehörende Konfrontation mit der Diagnose "Demenz",
da die Auswirkung dieses Vorgehens schwer kalkulierbar und
sehr stark von der Einfühlsamkeit des Anwenders abhängig
ist. Zusätzlich wird bei der SET eine eher "künstliche"
Atmosphäre, besonders durch die Verwendung von Videoaufnahmen,
geschaffen.
Die Effektivität beiderKonzepte ist stark sympathieabhängig,
da die Betreuten über sich selbst erzählen sollen
und sie bedürfen intensiver Unterstützung durch
die Angehörigen, insbesondere bei Demenzerkrankten
im fortgeschrittenen Stadium.
Zur Evaluation der SET liegen noch keine kontrolliert durchgeführten
Studien vor. Es gibt aber den Zwischenbericht einer Studie,
in der die Erfahrungen beim stationären Einsatz der
SET veröffentlicht wurden. In dieser Untersuchung wurde
die unmittelbare Wirkung von durchgeführten Behandlungen
durch eine Erhebung vor Beginn der Behandlung und vor der
Entlassung (ca. 3 Wochen Zeitintervall) ermittelt. Es wird
über eine signifikante Verbesserung der Stimmung, signifikante
Reduktion der Depressivität und Abnahme von Verhaltensauffälligkeiten
(Unruhe, Aggressivität, unkooperatives Verhalten, Antriebsmangel)
berichtet.
Die Erfahrungen, die im ambulanten Bereich mit der SET gemacht
wurden, zeigen einen verlangsamten Krankheitsverlauf, geringere
Depressivität und die Zunahme der sozialen und selbständigen
Freizeitaktivitäten.
Biographiearbeit ist oft Bestandteil andererKonzepte, weshalb
es schwierig ist, ihre direkten Auswirkungen zu erfassen.
Es zeigen sich aber positive Ergebnisse in Bezug auf die
Kommunikationsfähigkeit (vgl. Kitwood, 2000, S. 88).
Zu
den "interagierenden" Betreuungskonzepten zählen
meiner Ansicht nach die Validation, die Integrative Validation
und der personenzentrierte Ansatz nach Kitwood.
Validation
Ziel ist es, demente Menschen beim Lösen von unausgetragenen
Konflikten aus ihrer Vergangenheit zu begleiten, damit sie
ihren "Seelenfrieden" erlangen können. Dies
ist primär eine Unterstützungsaufgabe, da davon
ausgegangen wird, dass der demente Mensch weiß, was
gut für ihn ist (Weisheit des alten Menschen). Die
Interaktionen findet über die direkte Kommunikation,
das "In-Beziehung-Treten" mit dem Demenzerkrankten,
statt.
Positive Inhalte sind, dass der demente Mensch ernst genommen
wird und sich die Interaktion an der subjektiven Realität
und den Bedürfnissen des Einzelnen orientiert. Die
Grundhaltung gegenüber dem Betreuten ist geprägt
von Achtung, Würde, Empathie, Respekt und Ehrlichkeit.
Negativ fällt vor allem das schwache theoretische Gerüst,
auf dem das Konzept der Validation aufbaut, ins Gewicht:
"Wie bei der Realitätsorientierung fällt
es auch bei Feils Arbeit leicht, sie lächerlich zu
machen." (Kitwood, 2000, S. 88). Dies betrifft sowohl
die einseitige Interpretation von Verhalten und Gefühlen
dementer Menschen, als auch die aus psychoanalytischen Modellen
entlehnten, in diesem Zusammenhang eher fragwürdigen
Interpretationen von Symbolen (z.B.: Socke = Kind, mächtiger
Sessel = Penis, Mann, Ehemann, Sex).
Einschränkungen erfährt die Validation durch die
Definition der Zielgruppe, da nur über 80jährige
berücksichtigt werden und auch die abwertende Haltung
gegenüber medizinischen Diagnosen erschwert die Akzeptanz
der Methode. Zusätzlich wird durch die Einstellung
gegenüber der präsenilen Demenz, die nach Feil
nicht positiv beeinflusst werden kann, die Größe
der Zielgruppe noch einmal reduziert.
Obwohl sich das Konzept eigentlich auf das eigenständige
Individuum konzentriert und Hilfestellung beim Lösen
von "Lebensaufgaben" geben soll, kann es durch
die einseitige und einheitliche Interpretation von Desorientierung,
Gefühlen und Verhaltensweisen Demenzerkrankter schnell
dazu kommen, dass Umweltfaktoren und die aktuelle Situation
des dementen Menschen weitestgehend unberücksichtigt
bleiben. Die recht strikte Stadieneinteilung unterbindet
bei konsequenter Umsetzung ebenfalls den Individualitätsanspruch
der Betreuten. Es fehlt außerdem die Förderung
von alltagsnahen Kompetenzen und somit der Selbständigkeit.
Zur Validation liegen kaum Forschungsergebnisse vor. Einige
wenige empirische Untersuchungen berichten über Erfolge
durch ihre Anwendung. Naomi Feil beruft sich hauptsächlich
auf ihre eigenen Erfahrungen in der praktischen Anwendung
von Validation und auf eine von ihr 1971 durchgeführte
Untersuchung, die folgende Ergebnisse in Bezug auf desorientierte
Menschen hatte: "Sie wurden weniger inkontinent, das
störende Verhalten (schreien, schlagen) nahm ab, das
positive (lächeln, sprechen, anderen helfen) nahm zu;
sie wurden sich ihrer Außenwelt bewusster, sprachen
auch außerhalb von Gruppentreffen miteinander und
waren zufriedener." (Feil, 2000, S. 40).
Feil führt weitere Untersuchungen an, welche die Erfolge
der Validation belegen, geht jedoch nicht näher auf
einzelne Untersuchungsmethoden ein. Sie nennt unter anderem
Stan Alprin (1980), Paul A. Fritz (1986), Jean Prentczynski
(1991), James T. Dietch (1989) und Colin Sharp (1989) (vgl.
Feil, 2000, S. 40-42). Allerdings sind die überprüften
"Studien" methodisch eher zweifelhaft, so besteht
beispielsweise die Untersuchung von J. T. Dietch nur aus
einem case-report mit drei Beispielen, und die "Schlussfolgerungen"
sind äußerst vage formuliert: "Despite positive
anecdotal reports, there is still no controlled research
assessing the efficacy of VT [Validation Therapy]."
(Dietch, 1989, S. 976).
Integrative
Validation
Das Ziel der von Nicole Richard entwickelten IVA ist es,
Ressourcen dementer Menschen zu aktivieren, mit ihnen in
Kontakt zu treten und die Kommunikation zu fördern.
Die Interaktion konzentriert sich daher auf die Anwendung
adäquater Kommunikationstechniken.
Die IVA, die aus dem Konzept von Naomi Feil weiterentwickelt
wurde, ähnelt diesem in vielen Aspekten. Dies betrifft
vor allem die Grundhaltung (Ernstnehmen, Wertschätzung,
Akzeptieren) gegenüber Demenzerkrankten und den biographieorientierten
individuellen Zugang. Das Konzept hebt sich aber meiner
Meinung nach durch einige Änderungen sehr positiv von
der Validationsmethode nach Feil ab. Grundsätzlich
anders ist der Ansatz, der in diesem Fall ressourcenorientiert
ist und der Verzicht auf eine strenge Stadieneinteilung,
wodurch ein individueller Zugang tatsächlich möglich
wird. Die Validation ist sich zwar in beiden Ansätzen
sehr ähnlich, bei der IVA wird jedoch im Unterschied
zu Feil auf eine ständige Interpretation des Verhaltens
vor dem Hintergrund der Biographie verzichtet.
Eine deutliche Einschränkung erfährt das Konzept
durch den Schwerpunkt auf der Kommunikationstechnik, da
es aus diesem Grund nur für Demenzerkrankte im Anfangsstadium
geeignet ist, mit denen eine ausreichende verbale Kommunikation
möglich ist.
Forschungsergebnisse, die nicht von Nicole Richard stammen,
sind in der einschlägigen Literatur nicht zu finden.
Sie selbst berichtet über positive Erfahrungen, z.
B. veränderte Verhaltens- und Äußerungsformen
(weniger Stress, kontaktfähiger, zufriedener) (vgl.
Richard, 2001a, S. 59).
Personenzentrierter
Ansatz
Die Förderung des Wohlbefindens dementer Menschen durch
Erhalt des Personseins ist das Ziel des personenzentrierten
Ansatzes, der von Tom Kitwood entwickelt wurde. Die Interaktion
dient sowohl der Bedürfnisbefriedigung als auch einer
Verbesserung der Pflegebeziehung.
Positiv kann bewertet werden, dass in diesem Konzept die
einzigartige Person und nicht die Krankheitssymptomatik
im Mittelpunkt steht. Trotz einer eher kritischen Einstellung
zum "medizinischen Blickwinkel" wird dieser aber
nicht grundsätzlich abgelehnt. Zusätzlich ist
dieses Konzept das einzige, welches die Erkrankung Demenz
auch als gesellschaftliches Problem betrachtet und daher
einen sehr umfassenden Ansatz bietet.
Als Schwerpunkt lässt sich das "In-Beziehung-Treten"
mit einer dementen Person herausstellen, gleichzeitig kann
aber als negativ gewertet werden, dass andere Aspekte der
Betreuung (z.B. räumliche Gestaltung) kaum angesprochen
werden.
Nach Kitwood selbst ist der Forschungsstand zum personenzentrierten
Ansatz bisher unzureichend. Es gibt jedoch Studien, die
positive Auswirkungen der personenzentrierten Pflege belegen.
Dazu zählen zum Beispiel Publikationen von Janet Bell
und Iain McGregor (1991, 1995), die über Stabilität
im Krankheitsverlauf und hohe Grade des Wohlbefindens berichten,
sowie eine Untersuchung von Ann Netten (1993), die eine
signifikant bessere örtliche Orientiertheit, geringere
soziale Gestörtheit und geringere Grade an Apathie
fand. Die Bradford Dementia Group wies 1995 in einer Querschnittstudie
in 26 Pflegeheimen und 51 Einrichtungen für betreutes
Wohnen hohe Grade an Wohlbefinden beim Einsatz dieses Konzepts
nach.
Karlson et al. (1988) und Brane et al. (1989) konnten signifikant
positive Veränderungen bei psychologischen und neurochemischen
Variablen nachweisen. Kitwood selbst führte eine retrospektive
Studie durch, in der er positive Auswirkungen der personenzentrierten
Pflege auf das Wohlbefinden dementer Heimbewohner betont
(vgl. Kitwood, 2000, S. 95-98).
5.8.2 Die Rolle der betreuenden Personen
Es besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen
den verschiedenenKonzepten, wenn sie unter dem Gesichtspunkt
betrachtet werden, welche Rolle die betreuende Person (und
ihr Wohlbefinden) als Voraussetzung für eine adäquate
Dementenpflege spielt.
So existieren Betreuungskonzepte, die ihre Umsetzung stark
an die Betreuungsperson koppeln. DieseKonzepte konzentrieren
sich auf den Betreuer, der Wohlbefinden nur an demente Menschen
"vermitteln" kann, wenn auch sein eigenes Wohlbefinden
berücksichtigt wird.
Im Gegensatz dazu stehen die Betreuungskonzepte, in denen
die Betreuungsperson eher eine Nebenrolle spielt. DieseKonzepte
konzentrieren sich primär auf die Demenzerkrankten,
und eine höhere Arbeitszufriedenheit des Personals
ist eher ein Nebeneffekt der Umsetzung des Konzepts.
Zu
denKonzepten, in denen der Betreuer die Hauptrolle zugewiesen
bekommt, gehören meines Erachtens die Validation und
die personenzentrierte Pflege.
Im Prinzip ist bei der Validation die spezielle Technik
nachrangig, als wichtig werden vor allem Haltung und Eigenschaften
von Validationsanwendern, wie Ehrlichkeit, Respekt vor der
"Weisheit der alten Menschen" (Feil, 2000, S.
35), Empathie (in das Leben des anderen schlüpfen)
angesehen. Naomi Feil nennt als beste Voraussetzungen des
VA beispielsweise, selbst schon demenzähnliche Zustände
erlebt zu haben (z.B. Verlusterlebnisse). Für die zentrale
Rolle des Betreuers spricht auch, dass Feil ganz klar formuliert,
dass nicht jeder als VA geeignet ist.
Studien zeigen, dass aus der Anwendung von Validation eine
geringere Fluktuation des Personals (vgl. Feil, 2000, S.
41f.) resultiert, was an der prominenten Rolle liegen kann,
die dem Pflegepersonal bei diesem Konzept zugewiesen wird.
Beim personenzentrierten Ansatz wird von vorneherein als
Grundvoraussetzung gefordert, dass sich die Betreuungsperson
wohlfühlt und ihr eigenes Lebenskonzept aufgearbeitet
hat, um mit dementen Personen eine zwischenmenschliche Beziehung
aufbauen und Empathie zeigen zu können. Betont wird
außerdem, dass das Wohlbefinden der Mitarbeiter stark
von der Unterstützung der "für- und versorgenden
Organisation" abhängt (vgl. Kap. 5.7.1).
Eine Folge dieser Maßnahmen und Bedingungen ist eine
hohe Arbeitszufriedenheit von Betreuern, die nach dem personenzentrierten
Ansatz arbeiten.
Zu
denKonzepten, in denen das betreuende Personal eher die
"Nebenrolle" zugeschrieben bekommt, beziehungsweise
"Medium" zur Umsetzung des Konzepts ist, gehören
meiner Auffassung nach das Realitätsorientierungstraining,
die Milieutherapie, und die Selbst-Erhaltungs-Therapie (bzw.
die Biographiearbeit).
Für die praktische Umsetzung des ROT ist ein sogenanntes
Einstellungstraining des Personals ausschlaggebend (vgl.
Kap. 5.1). Daraus soll sich eine höhere Arbeitszufriedenheit
der Betreuer ergeben. "In fact, one of the original
purposes of RO[T] was to give staff a sense of 'doing something'
with patients that have bleak futures." (Dietch, 1989,
S. 974). Andererseits zielen diese Maßnahmen aber
nicht auf den Betreuer direkt ab, sie sollen ihn aber dazu
bringen, den Umgang mit den Betreuten zu verbessern.
Voraussetzung für die Umsetzung der Milieutherapie
ist ein gutes Arbeitsmilieu, da nur so die Schaffung eines
dementengerechten Milieus möglich ist. Biographiewissen,
räumliches Milieu und Beziehungspflege sind Anforderungen
an den Betreuer zur Verbesserung der Pflege. Auf den Betreuer
bezogene Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz wie bewältigbare
Pflege- und Betreuungsaufgaben, pflegerische Gestaltungsautonomie,
fachbezogene Weiterbildung und praxisnahe Fallbesprechung
dienen zwar dem Betreuer, ihr Ziel ist aber weniger dessen
persönliches Wohlbefinden, sondern eher die Sicherstellung
der Arbeitsleistung. Kempe et al. (1992, 1993) beschreiben
in diesem Zusammenhang, dass die Arbeit mit Dementen psychisch
sehr belastend sei und diese Belastung auf Dauer nicht bewältigt
werden könne. Daher müsse die Möglichkeit
des Berufswechsels gegeben sein (vgl. Lind, 2001, Kap. 2.2).
Dies spricht nicht unbedingt für eine optimale Unterstützung
der Mitarbeiter.
In der SET ist die Aufgabe des Betreuers die Unterstützung
des Betreuten. Im Konzept finden sich keine Aussagen über
professionelle SET-Anwender. Arbeitsbedingungen oder Voraussetzungen
werden nicht erwähnt. Es wird lediglich bemerkt, dass
bei der Einführung von SET in teilstationäre Einrichtungen
eine Supervision erfolgen soll.
Die IVA stellt gewissermaßen den Mittelweg dar. Einerseits
ist die Anwendung von IVA für den Anwender sehr effektiv.
Durch die Verbesserung des Umgangs mit dementen Menschen
und ein personenbezogeneres Arbeiten kommt er in eine persönlichere,
individuelle Beziehung zu den Betreuten, was seinen Stellenwert
in der Betreuung erhöht. Für die prominentere
Rolle des Betreuers sorgen auch die aus der Validation übernommenen
Grundlagen, beispielsweise dass die Grundhaltung zum dementen
Menschen wichtig ist. Andererseits berücksichtigt die
IVA, insbesondere im Vergleich zur Validation, stärker
die konkreten Bedürfnisse der Betreuten. Insgesamt
ist die IVA ein sehr teamorientiertes Konzept mit "Werkstattcharakter",
d.h. ihre Umsetzung richtet sich nach Ressourcen des Teams
und den äußeren Rahmenbedingungen der Einrichtungen
(z.B. Förderung der Teamarbeit, Biographiearbeit, Einbindung
in Dokumentation, Weiterführung und Begleitung der
Mitarbeiter) (vgl. Richard, 2001a, S. 60).
Meiner Meinung nach wird dieses Konzept momentan Betreuten
und Betreuern gleichermaßen gerecht und bietet eine
gute Mischung der Anforderungen für beide Gruppen.
5.8.3 Umsetzbarkeit
Zum Schluss soll in aller Kürze herausgestellt werden,
wie es um die praktische Umsetzbarkeit der einzelnenKonzepte
bestellt ist.
Da
bei dem ROT das gesamte Personal das Konzept anwenden sollte,
ist eine umfangreiche Vorbereitung (Schulung des Personals)
unumgänglich. Das stellt für die praktische Umsetzung
eine große Hürde dar.
Wenig aufwändig ist im Gegensatz dazu das 24-Stunden-ROT
(Orientierungshilfen, z.B. große Uhren, Kalender,
Namensschilder und "realitätsorientierende Kommunikation"
während der normalen Pflege), das bezogen auf Zeit,
Personal und Kosten in der Umsetzung sehr sparsam ist.
Für die Milieutherapie ist wegen des geforderten Zusammenwirkens
aller Umweltkomponenten (Bau, psychosoziales Milieu, Organisation)
bei konsequenter Einführung mit einem maximalen Aufwand
und maximalen Kosten, besonders durch die baulichen Maßnahmen,
zu rechnen. Aus diesem Grund ist eine konzeptgerechte Umsetzung
nicht zu erwarten.
Die SET fordert das spezialisierteste Personal und ist daher
vor allem von Personal bzw. Personalkosten abhängig,
zu denen sich Schulungen und Supervision addieren.
Ebenso wie bei ROT und Milieutherapie ist die flächendeckende
bzw. konzeptgetreue Einführung dieser Betreuungsmaßnahmen
momentan wie auch in Zukunft nicht vorstellbar.
Im
genauen Gegensatz dazu steht die individuelle Validation
nach Feil. Sie selbst beschreibt, dass jeder, der geeignet
sei, bei seiner Arbeit validieren könne, wenn er mit
dementen Menschen in Kontakt kommt. Dies könne auch
die Putzfrau sein, die das Zimmer säubert oder der
Gärtner, wenn er den Rasen mäht. Dazu kommt, dass
der VA nicht von äußeren Ressourcen abhängig
sind, mit Ausnahme der Validation in Gruppen. Die Anwendung
des Konzepts ist daher zu jedem Zeitpunkt und ohne finanziellen
Aufwand möglich.
Aufwändiger sind die Integrative Validation und der
personenzentrierte Ansatz. Hier dürften Kosten vor
allem im Bereich der Ausbildung von Personal anfallen. Positiv
ist jedoch, dass dieseKonzepte in einem Heim auch für
Teilbereiche eingeführt werden können und dass
die Möglichkeit einer stufenweisen Einführung
besteht, so dass sich die Umsetzung an die äußeren
Gegebenheiten anpassen lässt. BeideKonzepte haben aus
diesem Grund meiner Meinung nach die besten Chancen, aus
dem Stadium des Modellversuchs herauszukommen und eine weitere
Verbreitung zu finden, wie dies beim personenzentrierten
Ansatz im Prinzip in England schon der Fall ist.